Juliane Käppler

Willkommen in Hawks
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Juliane Käppler

PROLOG
Der Ruf des Seeadlers hallte noch wider, als das Tier längst schwieg und seinen Fokus auf das Feld unter ihm lenkte. Die Beute schien verschwunden, und so stieg der Adler höher, driftete mit kräftigen Flügelschlägen über die Spitzen der Buchen und Fichten und machte sich in nördliche Richtung auf. Das Summen von Starkstrom lag in der Luft, begleitet vom Zirpen der Grillen im Gras am Straßenrand und dem spöttischen Zwitschern zweier Rotkehlchen.
Ein Junghirsch trat aus dem Dickicht, ignorierte den Laut eines hinter ihm gebliebenen Gefährten und bewegte sich, Blätter vom Boden äsend, auf die Straße zu. Alsbald bot sich ihm keine Nahrung mehr, denn er stand mit den vier Hufen auf Asphalt. Wie ein schillerndes Tuch zog sich der Highway durch das Grün der Böschung und des Waldes. Seinen schnurgeraden Weg bahnte er sich über Hügel und durch Senken, wo er das Licht des späten Nachmittags so stark reflektierte, dass es an einigen Stellen wie Wasser schimmerte. Witternd hob der Hirsch den Kopf und wedelte mit den Lauschern. Erst auf die zweite Warnung seines Artgenossen hin machte er kehrt, um zum Rudel in den Schatten zurückzukehren.
Das Brummen des Motors war zu hören, bevor der Wagen die letzte sichtbare Kuppe erklomm und tiefblaues Metall im Sonnenlicht aufblitzte. Um einiges schneller als die erlaubten hundert km/h düste er den Highway entlang, vorbei an den letzten Werbetafeln der Fast-Food-Restaurants und der Shepler-Fähren, die Touristen von Mackinaw City nach Mackinac Island brachten. Die größeren Städte wie Cadillac und Traverse City waren passiert, und so weit im Norden von Michigan gab es nicht mehr viel, für das es sich zu werben lohnte. Hier gab es nur Wander- und Schneemobilrouten, mäßig attraktive Pilgerstätten und Menschen, die mit Touristen im Allgemeinen wenig anfangen konnten, weil sie selbst nie auf die Idee kamen zu verreisen. Die meisten jungen Leute zogen in einen anderen Bundesstaat oder in den Süden. Gerade in den zahllosen winzigen Städten lebten nur streng religiöse Senioren, die dem vergangenen Jahrhundert nachweinten, und sitzen gelassene Mütter. Nicht zu vergessen die bärtigen Männer in ihren karierten Hemden, die in verrosteten Transportern in die Wälder tuckerten, um Wild zu schießen.
Geradewegs an einen solchen Ort ging die Fahrt.
Einen Arm aufs heruntergekurbelte Fenster gelegt, steuerte er den 77er Mustang mit einer Hand, nahm dann und wann einen Zug von der Zigarette und warf sie schließlich fort. Der Wind strich ihm warm über die Haut, übers Gesicht und wirbelte durch seine Haare. Er sog den Duft der Kiefern ein, der sich mit einem Hauch Benzin und Süßwasser mischte. Das Dröhnen des kraftvollen V8-Motors harmonisierte nahezu perfekt mit der aufgedrehten Musik aus dem Radio. I’m on my way, I’m on my way, home sweet home, sangen Limp Bizkit im Motley-Crue-Cover.
Was ihn erwartete, war alles andere als ein süßes Zuhause in einem schläfrigen Nest namens Hawks, wo mit Sicherheit niemand daran dachte, dass er je zurückkehrte. Auch vor fünf Jahren hatte er nicht gerade auf der Warteliste der Ehrenbürger gestanden. Etwa jeder Zweite hatte ihm eine Zukunft vorausgesagt, wie sie seit einigen Tagen Vergangenheit für ihn war.
Er würde allen die Überraschung des Jahres bereiten und ihnen gleichermaßen einen Heidenschreck einjagen. Seine bloße Anwesenheit würde für Empörung und Diskussionen sorgen, für Aufruhr und Erinnerungen, die in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins getreten waren. Und einer Person würde dies schlaflose Nächte garantieren.
Bei einer Person würde er Angst verursachen. Tiefe, grässliche Angst. Hass. Wut. Stille Verzweiflung. All dies, ohne dass er ein Wort sagte, eine Drohung aussprach oder nur einen Finger krumm machte, sondern allein durch die Tatsache, dass er wieder da war. Weil diese eine Person wusste, weswegen er zurückkehrte – im Gegensatz zum Rest, der ihn lediglich für dumm, dreist oder ignorant halten und der Meinung sein würde, dass er kein Recht besaß, in Hawks zu verweilen.
Sie würden nie vergessen, doch er würde das ebenso wenig tun. Nicht den Frühling 2008. Er dachte an die Cedar Road und die wenigen Häuser, die dort standen. Er erinnerte sich an eine Nacht im April und an seinen erwachenden Willen, jemand zu sein, der ein Ziel im Leben verfolgte, wobei sich unweigerlich das alte Lebensgefühl einschlich: Diese träge Freiheit und der befriedigende, lähmende und gleichermaßen aggressive Schmerz, freigesetzt durch Musik, die sagte, was Worte kaum auszudrücken vermochten.
All dies lag lange zurück. All dies war so tot, wie er sich zeitweise gefühlt hatte. All das hatte man ihm an einem Tag genommen – wenige Wochen, bevor er Hawks freiwillig den Rücken zugekehrt hätte, um seinen Weg zu gehen.
In Anbetracht dessen war es ihm herzlich egal, was man über seine Heimkehr sagte. Er würde sich eine Beschäftigung suchen und taub stellen. Dumm, dreist und ignorant. Er hatte keinen anderen Plan als den, geduldig zu sein. Präsent zu sein. Nervös zu machen. Zu lauern. Bis der Eine die Beherrschung verlor und einen Fehler beging.
Hawks würde er erst dann verlassen, wenn derjenige gefunden war, der ihn um das wertvollste Geschenk seines Lebens gebracht hatte.
1. TEIL
Komm, wie du bist
Come [Komm]
As you are [Wie du bist]
As you were [Wie du warst]
As I want you to be [Wie ich dich haben will]
As a friend [Wie ein Freund]
As a friend [Wie ein Freund]
As an old enemy [Wie ein alter Feind]
Take your time [Nimm dir Zeit]
Hurry up [Beeil dich]
The choice is yours [Du hast die Wahl]
Don’t be late [Komm nicht zu spät]
Take a rest [Mach eine Pause]
As a friend [Wie ein Freund]
As an old memory [Wie eine alte Erinnerung]
(Nirvana, „Come as you are“)
1. KAPITEL
Juli 2007
„Vergiss nicht anzurufen“, sagte Liz zum siebten Mal an diesem Morgen und drückte Charlotte an sich. „Du wirst mir sehr fehlen.“
Charlotte sog ihren Duft ein. Liz trug nie Parfüm, doch ihrer Kleidung hing ein einzigartiger, leicht holziger Geruch an, der an Patschuli erinnerte. „Ihr werdet mir auch fehlen.“ Sie versuchte, den Kloß im Hals runterzuschlucken, um nicht zu weinen anzufangen. Dann wandte sie sich Martin zu, der die Hände in den Taschen seines Trenchcoats vergrub.
Er lachte bitter, und in seinen Augen blitzte es verräterisch. „Fehlen werden wir dir wie ein Loch im Kopf, nicht wahr?“
„Nein, ganz ehrlich!“
„Komm her, meine Engelin, lass dich umarmen und küssen!“ Beides tat er mit der Herzlichkeit eines Vaters, der sein Kind recht widerwillig in die Welt entließ. Ebenso widerwillig löste er sich von ihr und sah zur Sicherheitskontrolle: „Nun hau schon ab! Die warten auf dich!“
„Wir sehen uns an Weihnachten.“ Charlotte war froh, dass ihre Worte sicherer klangen, als sie sich in Wahrheit fühlte. „Das ist ja schon in einem halben Jahr.“
„Du wirst sehen, die Zeit vergeht wie im Flug.“ Liz holte einmal tief Atem und stemmte beide Hände in die Hüften. Es half nicht, denn im nächsten Moment kullerte die erste Träne über ihre Wange. Abermals nahm sie Charlotte in den Arm. „Pass auf dich auf, hörst du?“, raunte sie. „Und sei nett zu Lucy!“
„Ja, lass dir deine schlechte Erziehung nicht allzu oft anmerken“, bemerkte Martin, um die Traurigkeit in Humor zu ertränken. „Es fällt sonst alles auf mich zurück.“
Sich von Liz zu lösen kam einer Trennung von Plus- und Minuspol gleich. Während Charlotte rückwärts lief und lächelte, um sich die Unlust an dieser ganzen Aktion nicht anmerken zu lassen, prägte sie sich die Gesichter ihrer Eltern ein. Martins schmale Gesichtsform, eingerahmt von seinem dunklen Wuschelkopf. Sein vorwitziger Blick hinter der runden Nickelbrille, die er wohl seit den Achtzigerjahren durch kein moderneres Modell ersetzt hatte. Liz’ sanfte Züge, die Gefasstheit in ihren hellen Augen, der Glanz ihrer aschblonden Haare.
„Frau Charlotte Engel bitte zu Gate 17“, schallte der Aufruf über die Lautsprecher.
Charlotte hob die Hand zu einem Gruß. Obwohl sie spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog, musste sie über ihre Mutter und ihren Vater grinsen. Zur Verdeutlichung, dass alles in Ordnung war, legte Martin einen Arm um Liz’ Schultern, womit sie eine harmonische Ökoton-in-Ökoton-Eltern-Einheit verkörperten.
Charlotte wandte sich um und lief zur Sicherheitskontrolle, ohne ein weiteres Mal zurückzuschauen. Ihre Tränen hatte sie lange genug zurückgehalten.
Nie hatte Charlotte sich gewünscht, stinknormale Eltern mit stinknormalen Berufen und einem stinknormalen Leben zu haben. Sie war nicht daran gewöhnt, was im Allgemeinen als Normalität bezeichnet wurde, auch nicht an ein alltägliches Familienleben, wie ihre Freunde es hatten. Sie konnte nicht mitreden, wenn die anderen sich über Spießertum beklagten, über Verbote und die schlichte Unmöglichkeit, einem Wunsch nachzugehen. Sie hörte lediglich zu. Die Vorstellung, dass Liz allabendlich ein nahrhaftes Essen kochte und Martin in der Elternvertretung der Schule tätig war, erschien Charlotte absurd. Es widersprach der Einstellung ihrer Eltern, den Nachwuchs, den sie ab einem gewissen Alter zu eigenständigem Handeln ermutigt hatten, über die Maßen zu behüten, zu füttern und praktisch zu bevormunden.
Charlottes Objektivität und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sowohl für ihre eigenen Belange als auch für die anderer eintrat, spiegelten sich in ihrer Beliebtheit wider. Seit mehreren Jahren war sie Klassensprecherin und einer der Tutoren des Gymnasiums, die jüngeren Schülern bei der Eingewöhnung halfen und Nachmittagsveranstaltungen organisierten. Obwohl sie selten etwas anderes als Einsen schrieb, kam niemand auf die Idee, sie als Streber zu bezeichnen. Vielmehr war sie eine Anlaufstelle für Leute mit Liebeskummer, vergessenen Hausaufgaben, Zensurenstress oder Minderwertigkeitskomplexen.
Charlotte selbst war nur durchschnittlich groß und schlank. Sie hatte keinen großen Busen, mit dem sie angeben, und keinen dicken Hintern, über den sie sich beklagen durfte – beides fand sie optimal. Ihre Haut war blass und stand in einem wundersamen Kontrast zu ihren dunklen Augen, die von dichten Wimpern und fein geschwungenen Augenbrauen gerahmt wurden. Wenn sie lachte, zeigte sich ein Grübchen in ihrer rechten Wange. Widerspenstige Locken kringelten sich um ihr Gesicht und bis über die Schultern. Kam sie damit morgens einmal nicht zurecht, band sie das Haar zusammen oder setzte eine Mütze auf, ohne weiter darüber nachzudenken.
Charlotte machte sich nichts aus Trends, aus Charts, aus Mode. Der Wettlauf gegen die Jungfräulichkeit unter ihren Freundinnen ließ sie kalt, auch dann noch, als sie mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen konnte, dass sie, mit Ausnahme zweier strenggläubiger Katholiken, die letzte in ihrer Klasse war, die noch keinen Sex gehabt hatte. Wenn eine die Statistiken kannte, dann sie.
Charlotte schien eine eigene Welt um sich herum zu errichten, in der jeder gern flanieren ging, aus dem Gefühl heraus, dass es dort keine Probleme gab. So war es in der Altbauwohnung der Engels im Münchener Stadtteil Schwabing trotz Elizabeths und Martins sporadischer Abwesenheit niemals still. Beinahe jeden Abend hatte Charlotte drei oder mehr Freunde zu Besuch, die sich bei ihr heimisch fühlten und oftmals über Nacht blieben. Außerdem ging sie gern auf Partys, doch betrank sich dort nicht bis zur Besinnungslosigkeit. Mitunter rauchte sie Gras, konnte dem aber nicht so viel Spaß abgewinnen, um einen Exzess zu provozieren. Die ihr zugestandenen Freiheiten hätte Charlotte möglicherweise ausgenutzt, wären sie an Klauseln geknüpfte Ausnahmen, doch Martin und Liz zu hintergehen, hätte ihr die Freude an jedem Vergnügen genommen. Es gab keine Verbote oder Bedingungen, weil kein Anlass dafür bestand. Ein Anlass und das daraus resultierende Aufstellen von Regeln hätten jeden der Engels gleichermaßen entsetzt. Die Basis ihrer Familie beruhte auf Vertrauen.
Aktuell vertrauten Liz und Martin in Charlottes Stärke, ein Jahr ohne sie auszukommen. Zwar sah Charlotte keine Hürde darin, doch in dem Moment, als sie die Sicherheitskontrolle passierte, bedauerte sie, dass ihre Eltern kein stinknormaler Mathematiklehrer und keine stinknormale Bibliothekarin waren. Zugleich verwünschte sie den Enthusiasmus der beiden, mit welchem sie die Geologie stets aufs Neue zu ihrer Bestimmung machten.
In den vergangenen sechzehn Jahren hatten sich Elizabeth und Martin Engel mit ihren Studien auf europäischem Raum einen Namen als Geologen gemacht. Nun rief sie Tibet – ein Traum, dessen Realisation sie lange Zeit aufgeschoben hatten. Für die Studie des tibetischen Plateaus zum Verlauf der Rift-Täler und dem angeblichen Höhenverlust der Hochebene planten sie ein Jahr ein und hatten Charlotte eine so lange Abwesenheit zu einem früheren Zeitpunkt nicht zumuten wollen.
Der Abend, an dem sie Charlotte in ihre Pläne einweihten, war zur Nacht geworden. Stundenlang hatten sie über die Umsetzung geredet – wie sie über so vieles ausführlich redeten. Es war eine seltsame Angewohnheit der beiden, jedes Wort zu zerlegen wie einen Klumpen nasser Erde. Charlotte hatte eingesehen, dass sie kein ganzes Jahr allein zu Hause leben durfte. Sie war nicht volljährig, und es gab nicht einmal eine Groß-Groß-Großtante, die als Vormund hätte einspringen können. Dennoch lehnte sie den Vorschlag rigoros ab, in ein Internat überzusiedeln. Lieber wäre sie mit nach Tibet gegangen.
Was nicht bedeutete, dass sie nach Tibet wollte, wie sofort geschlussfolgert wurde. Die Begeisterung ihrer Eltern für Gestein und dessen Geschichte teilte sie nicht in dem Maße, dass es für ein Jahr Tibet gereicht hätte. Also wurde nach Alternativen gesucht, wobei die Engels im Morgengrauen die andere Seite des Atlantiks erreichten.
Charlottes Eltern hatten sich während einer Expedition in Norwegen kennengelernt. Im Anschluss war Martin zurück nach München und Liz nach Chicago geflogen, wo beide ihr Studium fortsetzten. Über die folgenden Jahre schrieben sie sich regelmäßig, und mit Ende des letzten Semesters beschloss Liz, ihre Diplomarbeit in Deutschland zu schreiben. Dort blieb sie, sehr zum Missfallen ihrer Mutter, die in einer Kleinstadt in Michigan lebte.
Zuletzt gesehen hatte Charlotte ihre Großmutter während der Weihnachtstage vor fünf Jahren, als sie zwölf gewesen war. An die vier Besuche davor konnte sie sich kaum entsinnen. Sie erinnerte sich lediglich daran, dass es immer Weihnachten und somit Winter gewesen war. Wurde Charlotte nach ihrer Großmutter gefragt, wusste sie nicht mehr zu erzählen, als dass Lucy Potter einen Buchladen hatte und im amerikanischen Nirgendwo lebte, wo es nichts als Schnee zu geben schien und barbarische Kälte das Leben konservierte.
Die Fremde, die Kälte oder der Schnee spielten im Endeffekt kaum eine Rolle. Vielmehr hatte sich ein Gedanke in Charlottes Kopf eingenistet, der sie nicht losließ und ihre im Nachhinein unüberlegte Zustimmung mit Reue spickte. Sie befürchtete, in jedem Internat mehr Freiheiten zu haben als in jener pastellfarbenen Welt, die für ein Jahr ihr Zuhause sein würde.
Mit Ohrstöpseln schirmte Charlotte die Ohren vom Stimmengewirr im Flugzeug ab. Auf dem Weg zur Reihe 38 im Heck hörte sie Time is Running Out von Muse. Der Sänger, Matthew Bellamy, verfiel ins Kreischen, während sie den Rucksack im Gepäckfach verstaute und sich des prüfenden Blicks ihres Sitznachbarn bewusst wurde. Für den Flug hatte sie ihre Lieblingskaroshorts gewählt, dazu ein über die Hüfte fallendes dunkelgrünes Tanktop, unter dem sie ein schwarzes Shirt trug. Beinahe nirgendwohin ging sie ohne die Boots, deren Schnürsenkel lose herunterbaumelten und in die sie schwarze Strümpfe gezogen hatte, welche sie, falls ihr kalt wurde, bis über die Knie hochziehen konnte. Um beide Handgelenke trug Charlotte Lederarmbänder und um den Hals eine ebenfalls lederne Kette mit einer silbernen Eidechse als Anhänger.
Der Amerikaner im grauen Anzug las in einem Finanzjournal. Er erhob sich auf Charlottes Bitte hin und ließ sie zum Fensterplatz durch. Sobald sie saß, erkundigte er sich beiläufig, wohin sie flog, und zeigte sich von ihrer akzentfreien Aussprache beeindruckt, als er hörte, dass sie Deutsche war.
Charlotte hingegen war nicht einmal aufgefallen, dass sie Englisch gesprochen hatte. Sie war zweisprachig aufgewachsen. Nach wie vor unterhielt sie sich mit Martin auf Deutsch, während sie mit Liz Englisch sprach. Waren sie zu dritt, entstand ein Mix aus beiden Sprachen. Für Charlotte war Englisch genauso deutsch, wie Deutsch englisch war. Sie übersetzte nicht. Sie verstand einfach. Sie träumte und dachte in beiden Sprachen und benutzte sie nach Bedarf oder Wunsch, ohne das Gehirn dafür bewusst umzupolen.
Als das Flugzeug über die Startbahn preschte und die Räder den Kontakt zum Asphalt verloren, schloss Charlotte die Augen. Sie konzentrierte sich darauf, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, das Brennen in ihren Augen wegzuatmen und nicht länger darüber zu grübeln, wer und was sie auf der anderen Seite des Atlantiks erwartete.
Lucy Potter war eine temperamentvolle Frau Anfang sechzig, die mit beiden Beinen fest im Leben stand. Doch hatte es ihr einiges an Stärke abverlangt.
Sie hatte ihre Kindheit in einem Waisenhaus verbracht, hatte nur Haben oder Nicht-Haben gekannt und sich oft mit Letzterem abgefunden. Früh hatte sie beschlossen, dass dies nicht immer so sein sollte. Sie war eine Enthusiastin, die jedoch niemals Illusionen nachhing, eine Optimistin, die zu keiner Zeit den Bezug zur Realität verlor. Lucy glaubte lediglich an das, was sie sah, und daran, dass die Butter allein durch das Verrichten einer Tätigkeit in den Kühlschrank wanderte, nicht durch glückliche Umstände und schon gar nicht durch Gottes Gnade. Sie hatte ihren Ehemann in Vietnam verloren und ihre Tochter in Deutschland – oder sonst wo auf der Welt –, doch ihre Vergangenheit hatte sie nicht verbittern lassen, denn in Lucys Vorstellung von einem guten Leben gab es keinen Platz für Selbstmitleid. Für sie ging es immer irgendwie und mit irgendwas weiter. Ob man nun weinte oder lachte. Lucy lachte lieber.
Vor sich hin summend lenkte Lucy ihren ins Alter gekommenen Chevrolet auf einen Kurzzeitparkplatz vorm Ankunftsterminal des Detroit Wayne County Airport. Seit man ihr die Neuigkeit mitgeteilt hatte, musste sie grinsen, wenn sie an ihre Enkelin dachte. Was war es noch, das Liz ihr beim letzten Telefonat gesagt hatte? Hm, so ein Pech, die Worte mussten ihr in der beginnenden Demenz entfallen sein. Irgendwas von Rücksichtnahme und Gewohnheiten war es wohl gewesen. Dabei kannte ihre Tochter sie doch gut genug, um zu wissen, dass sie Charlotte gewiss nicht mit Samthandschuhen anfassen würde. Schließlich wollte sie die durchaus verständliche Traurigkeit und den Trennungsschmerz des Kindes nicht ausdehnen. Was Liz’ und Martins Erziehungsmethoden anging ... nun, Charlotte würde sich damit abfinden, dass am Lake Michigan ein anderer Wind wehte. Es mochte ja sein, dass sie über einen positiven Eigenwillen verfügte und sehr selbstständig war – herrje, was blieb dem Mädel bei den Weltreisen seiner Eltern auch übrig? Doch in Hawks musste man sich anpassen. Lucy bedauerte es, ihre Enkelin nicht öfter gesehen und praktisch keine Chance gehabt zu haben, großmütterliche Qualitäten zu entwickeln, doch trotz aller Distanz liebte Lucy das Kind und wollte so viel wie möglich nachholen.
Mit einem weiteren Schmunzeln schloss Lucy ihr Auto ab. Sie ahnte, dass Charlotte vor allem erwartete, sich zu langweilen. Dem zum Trotz hatte Lucy so ein Gefühl, dass das vor ihnen liegende Jahr alles andere als langweilig werden würde.
Es war bereits früher Abend, als Charlotte mit ihrer Großmutter Lucy nach Emmet County gelangte. Eine lange Fahrt lag hinter ihnen. Sechs Stunden voll viel zu vieler neuer Eindrücke, die Charlotte nicht verarbeiten konnte und wollte. Zwar hatte sie im Flugzeug ein paar Stunden geschlafen, fühlte sich aber dennoch ausgelaugt und von Trägheit erfasst. Zudem machte ihr der schwere Duft von Lucys Parfüm zu schaffen. Wie auch diese Musik. Charlotte war überzeugt, dass ihre Ohren nie zuvor einer schlimmeren Qual ausgesetzt waren als dem Quäken irgendwelcher Tracys, Pattys und Dollys.
Sie warf einen Blick auf die Frau im lilafarbenen Freizeitanzug hinter dem Steuer, die das Radio mal laut und mal leise drehte, ununterbrochen plauderte und zu jeder noch so belanglosen Sache etwas anzumerken hatte. Im Gegensatz zu Charlotte zeigte sie nicht den Hauch einer Erschöpfung und schien die Fahrt zu genießen, als sei sie im Urlaub unterwegs. Auch äußerlich wirkte Lucy jung. Ihre Haut war so weiß wie Charlottes, ihr Gesicht beinahe faltenfrei und sorgfältig geschminkt. Ihr Haar war so ordentlich frisiert, dass es nahezu plastisch wirkte. Sie trug es kurz und gab zu, dass es ohne die regelmäßige Blondierung komplett grau wäre. Abgesehen von ihrem Ehering und einem riesigen Diamanten, über den Charlotte erfahren hatte, dass ihr Großvater ein Jahr dafür gespart hatte, trug ihre Großmutter auf die Kleidung abgestimmte lilafarbene Ohrclips mit daran baumelnden Herzen.
Bald darauf passierte der Chevrolet das Willkommens-Schild von Petoskey, einer Mini-Metropole am Ufer des Michigansees. Während sie die belebten Straßen entlangfuhren, setzte Lucy Charlotte über die Qualitäten der Stadt in Kenntnis. Touristen kamen hierher wegen der guten Wassersport- und Einkaufsmöglichkeiten. Es gab teure Hotels, ein Casino, schicke Restaurants, Clubs, Bars. Abermals wusste Charlotte nicht, was sie mit diesen Informationen anfangen sollte, insbesondere weil sie aufgrund ihres Alters in die Mehrzahl dieser Lokalitäten nicht einmal hineinlinsen durfte. Doch Lucy plapperte weiter, schwärmte von den Jachten im Hafen, von der ausgezeichneten medizinischen Versorgung im modernen Krankenhaus und ihrem Lieblingsarzt. Mit einem Leuchten in den blauen Augen beschrieb sie die während der Sommermonate von der Stadt veranstalteten Kunstausstellungen, die Farmermärkte und Festivals.
Beinahe vergaß sie zu erwähnen, dass Charlotte in Petoskey zur Highschool gehen würde. An dieser Stelle horchte das Mädchen auf, doch die aufkeimende Neugier wurde sogleich erstickt, als Lucy ihr zu verstehen gab, dass hier vorrangig wohlhabende Amerikaner lebten. Dabei verwies sie auf Villen am Seeufer. Von pittoresk bis protzig war jeder Stil vertreten. Hinter weißen Gartenzäunen erhaschte Charlotte einen Blick auf Oldtimer vor Garagen und Veranden mit Hollywoodschaukeln. Die Häuser waren dekoriert, als konkurrierten sie untereinander um den Preis für den stilvollsten Kitsch oder die größte Anzahl an gehissten Nationalflaggen.
Charlotte fühlte sich davon abgestoßen und empfand in derselben Sekunde leise Reue, weil Lucy sich solche Mühe gab, die positiven Seiten ihrer vorübergehenden Heimat hervorzuheben. Doch die Euphorie, mit der die alte Dame von der vor ihnen liegenden Zeit sprach, wusste Charlotte absolut nicht zu teilen. Wieder und wieder sagte sie sich, dass sie überall klarkäme, und wartete vergeblich auf die Wellen von innerer Wärme und Vorfreude. Petoskey war äußerlich wunderschön, daran gab es keinen Zweifel. Es war malerisch und gepflegt wie ein englischer Garten, doch Charlotte würde nicht nur einen Tag darin spazieren gehen, sondern das gesamte kommende Jahr hier verbringen. Von Montag bis Freitag.
Als ihre Großmutter auf eine Stretchlimousine zeigte, die offenbar von Urlaubern gemietet wurde, die gerade auf dem Weg zum Casino waren, zwang sich Charlotte zu einem Lächeln und scheuchte den Trübsinn fort. Ihre Eltern hatten sie als toleranten Menschen erzogen, und es sah ganz danach aus, als sei sie nun diejenige, die toleriert werden wollte. Ganz sicher wollte sie Lucy nicht vor den Kopf stoßen, indem sie sich als miesepetrige, unreife Göre präsentierte.
„Wie schaut’s aus, Darling?“ Lucy nahm eine Hand vom Lenkrad, um ihrer Enkelin die Wange zu tätscheln. „Hast du Hunger?“
Charlotte schielte auf eine Reihe Fast-Food-Restaurants, an denen sie vorbeifuhren. Schon eine Weile grummelte ihr Magen, was sowohl auf Hunger als auch auf das vertilgte Junkfood – wie ihre Großmutter die mitgebrachten Senfbrezeln nannte – zurückzuführen sein mochte.
„Was hältst du von Mexikanisch?“
Zwischen den Werbetafeln mit abgebildeten Hamburgern, Schnitzeln und Hotdogs entdeckte Charlotte einen blinkenden mexikanischen Strohhut. Da sie sich gerade erst vorgenommen hatte, nicht rumzunörgeln, biss sie sich auf die Lippen.
Lucy schien ihre Gedanken zu erraten. „Darling, du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich in eine solche Bude schleppen würde! Ich bekomme Sodbrennen von dem Zeug“, kicherte sie, hupte und grüßte jemanden in einem entgegenkommenden Wagen. „Ich sagte doch, dass es hier ausgezeichnete Restaurants gibt. Und in eines davon, das La Señorita, fahren wir jetzt. Es wird dir dort gefallen.“
Die Sonne stand tief am Himmel, als sie Petoskey verließen. Charlotte lehnte den Kopf gegen die Stütze und schloss die Augen. In ihren Ohren klingelte es immer lauter, denn auch im La Señorita hatte Lucy kaum einen Moment geschwiegen. Hastig hatte Charlotte einen tatsächlich sehr leckeren mit Hähnchenbrust und Gemüse gefüllten Burrito vertilgt und dem eigentlich tollen, stimmungsvollen Restaurant wieder entfliehen wollen. Sie wollte dringend irgendwo ankommen und ein bisschen Ruhe haben.
Auf Lucys neuerliche Bemerkung öffnete sie die Augen. Auf dem See erglommen die Lichter der Segelboote und an der Küste die von Lampionketten und Lagerfeuern. Entlang des Wassers fuhren sie nach Norden. Sie gelangten in einen Kiefernwald, wo die Straße kurvig wurde und anstieg, bis der See weit unter ihnen lag. Das Abendrot schwamm darauf wie ein Ölfilm und schimmerte durch die Baumstämme. Nach fünfzehnminütiger Fahrt ging es auf gerader Strecke wieder bergab.
Im Licht der Scheinwerfer las Charlotte das Ortseingangsschild. Hawks stand über der Geschwindigkeitsbegrenzung und der Einwohnerzahl. Ganze 362 Seelen. Unweigerlich fragte sie sich, ob diese Zahl monatlich oder jährlich nach unten korrigiert wurde, und dachte dabei, dass Orte wie dieser in Deutschland niemals als Stadt bezeichnet wurden. In diesem Land galt jedoch alles als Stadt, was über eine Kirche, eine Bar und einen Supermarkt verfügte. All das und nicht mehr gab es in Hawks.
Lucy steuerte den Chevrolet runter von der menschenleeren Hauptstraße und passierte mehrere Nebenstraßen, in denen sich Holzhäuser aneinanderreihten. Zwar benötigten etliche einen neuen Anstrich, die Vorgärten machten jedoch einen passablen Eindruck. Als der See in Sicht kam, bog Lucy auf einen ungeteerten Privatweg, der den Strand von den großen Rasenflächen der Häuser in der Cedar Road teilte. Sechs, vielleicht sieben Gebäude zählte Charlotte in der Dunkelheit. Indes nannte Lucy ihr etliche Gründe, warum sie nie vor dem Haus parkte und den Hintereingang viel praktischer fand.
Über feuchtes Gras schleppten sie Charlottes Gepäck zum Haus. Lucy öffnete das quietschende Fliegengatter und schloss die innere Tür auf. Sie traten in einen von einer Tischlampe in dämmriges Licht getauchten Raum, dessen Boden mit Kork ausgelegt war. Auf einem grasgrünen Cordsofa waren Berge von Kissen arrangiert. Das Möbelstück flankierte einen runden Holztisch, auf dem Charlotte Zeitschriften, Untersetzer und mehrere dicke Kerzen entdeckte. Als sie der Blickrichtung des Sofas folgte, nahm sie den überdimensionalen Fernseher wahr. Zwei Fernsehsessel, deren Beige nicht wirklich zum Grün der Couch passte, luden zum Fläzen ein.
Lucy knipste eine zweite Lampe an, womit der Raum so abrupt erhellt wurde, dass Charlotte die Augen für einen Moment zusammenkneifen musste. Sie stellte die Reisetasche ab, als sie ein aktuelles Foto von sich selbst entdeckte, und trat näher, um es zu betrachten. Martin hatte es geknipst, bevor sie zu einer Party gegangen war. Bereits in der Haustür, hatte sie sich noch einmal umgewandt und dem Fotografen mit dem Schulterblick ein verschmitztes Lächeln zugeworfen. In einem verschnörkelten Silberrahmen war es nun zwischen vielen anderen aufgehängt worden.
„Ist das Shelly?“, fragte sie, während sie ein weiteres Foto betrachtete.
Auf der Fahrt hatte Lucy von ihrem neuen Hund erzählt. Nach dem Tod ihrer vorherigen Hündin hatte sie ein wenig Zeit verstreichen lassen wollen, doch dem Labrador-Collie-Mischling einfach nicht wiederstehen können. Charlotte hatte nie ein Haustier besessen. Nicht einmal einen Goldfisch.
Kaum hatte Lucy Charlottes Vermutung bestätigt, war das Geräusch von tapsenden Pfoten zu hören. Kurz darauf schoss ein schwarzer Welpe um die Ecke, von so überschwänglicher Freude angetrieben, dass er mehr schlitterte als lief. Winselnd sprang die Hündin an Lucy hoch und stolperte dabei über ihre eigenen Tatzen.
„Oh, wir haben dich aufgeweckt, meine Süße“, wandte Lucy sich an das Tier. „Du bist ja noch ganz verschlafen! Nun beruhig dich doch, ich bin ja da. Und schau nur, wen ich mitgebracht habe. Das ist Charlotte. Sie wird eine Weile bei uns bleiben.“
„Sie ist echt niedlich“, gab Charlotte zu und ging in die Hocke, um die Hündin zu streicheln. Die Aufmerksamkeit wurde mit weiterer unkontrollierter Freude quittiert, und bald saß Charlotte auf dem Boden und konnte sich vor lauter Shelly kaum retten. Lachend und auch ein wenig irritiert kraulte sie den schwarzen Kopf des Tieres und das samtweiche Fell hinter den Ohren.
Die Hündin gehorchte, als ihr Frauchen sie zurückpfiff, und setzte sich, um ihr Glück durch Schwanzwedeln auszudrücken.
„Gehen wir in dein Zimmer“, beschloss Lucy und ging zur nach oben führenden Treppe. „Früher gehörte es deiner Mutter. Ich bin sicher, du wirst es mögen.“
Charlotte zog ein Haargummi aus der Hosentasche, band ihre dunklen Locken zurück und stand auf. „Lucy?“
„Ja, Darling?“
„Danke.“ Charlotte kam sich plump vor, hatte aber dennoch das Bedürfnis, es auszusprechen. „Dafür, dass ich hier sein darf.“
„Keine Ursache! Gern geschehen.“
Am Fuß der Treppe angelangt, wandte Lucy sich um. Der Ausdruck in ihren blauen Augen war schwer zu deuten, sie schien sowohl belustigt als auch wachsam. „Ich bin ein wenig altmodisch, was bestimmte Dinge angeht“, gestand sie. „Also sei so lieb und nenn mich Granny!“
2. KAPITEL
Eine Staubwolke waberte über den Schotterweg. Verursacht wurde sie vom Fahrer eines Sportwagens der Neunzigerjahre, der darüber hinwegpreschte, als verfolgte er einen Killer – oder sei selbst einer auf der Flucht. Steine wurden von den Reifen weggekickt, der Motor röhrte, als es in eine Kurve ging und ein Gang zurückgeschaltet wurde. Aus den heruntergelassenen Fenstern dröhnten Bass und E-Gitarren, begleitet von der unverwechselbaren Stimme Nirvanas, dem Guru des Grunge, Kurt Cobain. Im gerade spielenden Song Come as you are schwor er, dass er keine Waffe besaß – eine Behauptung, die er nicht viel später widerlegt hatte.
Für die beiden Jungs im Wagen war Kurt ein Prophet und ein verflixter Bastard zugleich, der sich besser nicht erschossen oder damit zumindest noch gewartet hätte, bis sie Nirvana live gesehen hätten. Nicht selten bedauerten sie es, im falschen Jahrzehnt geboren zu sein, in dem die meisten Musiker nicht mehr ehrlich und alle anderen noch größere Lügner waren. Mit Cobain war der Grunge und mit dem Grunge die Musik gestorben, das stand für sie fest. Cobain war einer gewesen, mit dem sie sich identifizieren konnten, einer, der den ganzen Scheiß genauso sattgehabt hatte. Er hatte einen Dreck auf die Dinge gegeben, die von Politikern, Geistlichen, Pop-Divas und Boybands, Aristokraten und Hotelmillionären, nicht zuletzt von Eltern, Lehrern und der ganzen verdammten heuchlerischen Bande als lebensnotwendig oder erstrebenswert eingeschätzt wurde.
In Strandnähe verlor der Wagen an Geschwindigkeit. Er wurde auf einer im Sand verlaufenden Rasenfläche hinter einem Baum gestoppt, der beinahe parallel zum Boden wuchs. Die Türen wurden geöffnet, und die Jungs stiegen aus, ohne die Musik abzuschalten. Lässigen Schrittes schlurften sie zum Baum. Einer kletterte auf den Stamm. Der andere ließ sich in den Sand fallen.
Beim ersten Blick auf sie fiel einem sofort die Bezeichnung schräge Vögel ein, doch in der Gegend nannte man sie gemeinhin und mit einem keineswegs liebenswürdigen Unterton die Trouble Boys.
Der Kleinere von ihnen trug helle, weite Jeans und abgenutzte, mit Flüchen bekritzelte Turnschuhe. Sein lila-schwarzes Karohemd wehte offen über einem schmuddelgrauen T-Shirt, das am unteren Bund eingerissen war. Er hatte eine Tätowierung am Hals und Piercings in beiden Augenbrauen. Sein aschblondes Haar wirkte zerwühlt, sein Gesicht eher unscheinbar, aber nicht hässlich. Eine dünne Narbe, die von einer Schnittwunde herzurühren schien, verlief über seinen Mund und das Kinn, eine zweite über seine Wange. Wenn er lachte, bemerkte man das Fehlen eines Eckzahns. Insbesondere diese Merkmale deuteten darauf hin, dass er entweder sehr ungeschickt war oder regelmäßig körperliche Auseinandersetzungen austrug.
Der andere überragte seinen Freund um einen halben Kopf. Seine Statur war athletisch, wenngleich zu bezweifeln war, dass er sich in irgendeiner Form sportlich betätigte. Seine Kleidung war durchweg schwarz, angefangen bei der Jeans, die ihm lose auf den Hüften saß, bis hin zum T-Shirt mit der ausgewaschenen Silhouette eines Adlers über der Brust. Er trug eine Sweatjacke, die er jetzt auszog und als Nackenrolle benutzte. Abgesehen von einem Paar breiter Nietenarmbänder an seinen Handgelenken und einem silbernen Daumenring verzichtete er auf Schmuck. Hätte er bloß Aufmerksamkeit erregen wollen, wären Accessoires sowieso unnötig gewesen, denn allein sein Haar garantierte, dass er auffiel. Es fiel ihm glatt ums Gesicht, war auf Kinnlänge geschnitten und in verschiedenen Tönen koloriert. Die dunkle Ausgangsfarbe wurde von platinblonden und granatroten Strähnen aufgehellt. Auffallend waren auch seine Augen. Ihr Grau wirkte so abweisend, dass die meisten seiner Mitschüler es mieden, ihn anzuschauen. Dies sicher aus der Befürchtung heraus, er könne ein Knurren von sich geben oder eine Beleidigung ausspucken – obwohl er für gewöhnlich kaum aus eigenem Antrieb sprach. Seine Züge waren kantig, die Augenbrauen dicht und dunkel, die Wangen ein wenig hohl, die Nase nicht ganz gerade. Seinen Mund presste er die meiste Zeit zusammen und ließ sich nur selten zu einem schiefen Grinsen herab.
Der Blonde, sein Name war Spike Bellmore, zog ein Päckchen aus seiner Hosentasche. Mit flinken geübten Griffen verteilte er Tabak auf Zigarettenpapier, entnahm einer Dose eine grünlichbraune Substanz und zerkrümelte sie darüber. Zum Schluss rollte er das Papier zusammen, zwirbelte die Spitze der trichterförmigen Tüte und zündete sie an. Nach dem ersten Zug hielt er den Joint seinem Freund hin. Der starrte ins Nichts hinaus auf den See und wurde sich des intensiven süßlichen Geruchs erst nach etlichen Sekunden bewusst.
Der Tag war trübe. Nur gelegentlich fand die Sonne eine Wolkenlücke, um ihre Strahlen über die seichten Wellen tanzen und auf den glatt gewaschenen Steinen in Ufernähe glitzern zu lassen. Der öffentliche Strand von Hawks lag fünf Meilen weiter südlich und war mit Sand aufgeschüttet, um das Baden zu ermöglichen. An diesem nördlicheren Abschnitt kam man barfuß kaum einen Meter tief ins Wasser, was den Jungs egal war. Sie waren ja nicht zum Baden hergekommen, sondern wollten bloß ihre Ruhe haben und unbeobachtet sein, was hier so gut wie sicher war. An diesen Teil des Strandes verirrte sich niemand – mit der Ausnahme von Teenagern. Nicht jeder kam zum gleichen Zweck, allerdings immer aus demselben Grund. Außer diesem Ort gab es noch zwei, drei andere in der Gegend. Not machte erfinderisch.
Nachdem die Jungs eine gute halbe Stunde geschwiegen und die Droge wirken lassen hatten, wurde Spike unruhig. Er zupfte Blätter von den Zweigen und schnippte sie in Richtung seines Freundes. Der lehnte am Baumstamm, die Arme über der Brust verschränkt, die Augen geschlossen. Er wirkte so ruhig, als sei er auf den Wellen von Kurts Stimme aus der Hülle seines Körpers gesurft.
„Hey, Cameron!“
„Hm?“
„Ach, komm schon! Jetzt hab ich lang genug die Klappe gehalten. Das ist öde!“
„Dann rede doch!“
„Bin ich etwa so abgefuckt, dass ich Selbstgespräche brauche?“
„Ich weiß nicht, bist du’s?“
Spike schenkte sich eine Antwort, da er die Frage nicht als solche auffasste. Cameron rührte sich immer noch nicht. Er zwinkerte nicht mal. Spikes Schweigen schien ihn dennoch zu beschäftigen und ihm die Rückkehr ins Lala-Land zu verbieten. Durch kaum geöffnete Lippen nuschelte er: „Ehrlich, Mann, wann hab ich gesagt, du sollst abschalten?“
„Das hast du nicht direkt, aber du hast mir auch nicht geantwortet!“ Mit einem Satz sprang Spike vom Baum und ließ sich neben Cameron in den Sand fallen. „Comprende? No conversación!“
„War das letztens in Spanisch dran, als ich nicht da war?“
„Keine Ahnung. Ich war noch nie in Spanisch.“
Spike begann zu kichern. Binnen Sekunden wurde daraus ein von Keuchen unterbrochenes, nicht enden wollendes Lachen. Er setzte sich auf, nur um gleich darauf wieder umzufallen, kullerte durch das sandige Gras und schnappte nach Luft. Es hatte den Anschein, als sei der Grund für sein Amüsement längst vergessen, als erheiterte er sich an seiner Erheiterung. Der andere beobachtete ihn aus halb zusammengekniffenen Augen. Auf einen spielerischen Schlag in die Rippen knuffte er zurück, worauf es zu einer Rangelei kam, in deren Verlauf er endlich in das Lachen einstimmte.
„Oh Mann“, japste Spike. „Ich war auch nicht sonderlich oft in Physik oder Scheiß-Englisch.“
Cameron setzte sich auf und klopfte den Sand von seiner Hose. „Ach, Englisch ist nicht übel ...“
„Wieso? Die Topics müsstest du mittlerweile auswendig können. Oder stehst du auf Miss Bennash?“ Spike fand den Gedanken so witzig, dass es ihm nicht gelang, sich zu beruhigen, wie sein Kumpel es inzwischen getan hatte.
Der stand auf und lief zum Auto, um eine andere CD einzulegen und zwei Dosen Pepsi zu holen.
„Echt mal? Ist es wegen der Bennash?“, hielt Spike am Thema fest und amüsierte sich über den Blick, den er dafür erntete. Natürlich rechnete er nicht mit einem Geständnis. Er war lediglich stoned und bereit, Belustigung in jeder Art von Blödsinn zu finden. „Weißt du, woran ich gerade denke?“ Spike fingerte eine Zigarette aus der Schachtel. Noch liegend steckte er sie an und verschluckte sich am ersten Zug.
„Dass du zu viel Shit in den Tabak getan hast?“
„Nein, Mann. Dass wir echt Glück haben.“
„Wie lautet deine Definition von Glück?“
Spike rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf in die Handfläche. Er nahm einen weiteren Zug und grübelte kurz. „Eine verdammte Definition hab ich nicht. Aber wir können uns doch glücklich schätzen, noch ein ganzes Jahr abhängen zu dürfen, während all die Spinner jetzt aufs College oder zur Uni rennen, in dem irren Glauben, bald die fette Kohle zu verdienen.“
Cameron zuckte die Achseln. „Wenn’s ihr Traum ist und ihr Weg dorthin. Ehrlich gesagt wird’s mir hier langsam echt so langweilig, dass ich meine Möglichkeiten abwäge.“
„Logisch, kann ich verstehen. Ginge mir ähnlich, wenn ich die dritte Runde drehen würde.“ Abermals kicherte Spike. „Aber, Alter, was hättest du schon für Möglichkeiten? Die Highschool schmeißen und Karren reparieren? Oder die Highschool nicht schmeißen und Karren reparieren?“
„Ich denke darüber nach, die Highschool zu schmeißen und in den Süden zu ziehen, um dort eine Anstellung in einer Werkstatt zu finden.“ Er zögerte, bevor er die andere Option hinterherschickte. „Oder aber dieses eine Jahr durchzuziehen.“
Ohne die besänftigende Wirkung des Dope wäre Spikes Entsetzen noch größer gewesen. „Du willst doch nicht etwa einer dieser College-Spießer werden?“, ächzte er. „Scheiße, Cameron, Sentimentalität ist was Ätzendes.“
Mit einer Hand schirmte Cameron die Augen vor der Sonne ab, um einen Adler zu beobachten, der unterhalb der Wolkendecke seine Kreise drehte. „Ich bin nicht sentimental“, entgegnete er. „Ich bin nur mal realistisch. Ich will nicht ewig in Hawks bleiben. Am liebsten wäre ich gestern schon weg gewesen.“
Cameron McCready war neunzehn. Seine zweite Ehrenrunde in der zwölften Klasse war so unnötig wie die erste. Wäre da nur der Hauch eines Willens gewesen, hätte er Hawks schon zwei Jahre zuvor verlassen können. Dann wäre er jetzt bereits zwei Jahre irgendwo anders und täte irgendwas anderes. Aber was?
Gewiss war es nicht Camerons Lebenstraum, Autos zu reparieren, wenngleich es ihm irgendwie Spaß machte und er richtig gut darin war, was wohl an der jahrelangen Praxis lag. Wahrscheinlich war er schon in der Lage gewesen, Zündkerzen auszutauschen, bevor er lernte, sich die Schnürsenkel zu binden. Früher hatte er sehr viel Zeit in der Werkstatt seines Vaters verbracht, damals, als seine Mutter noch da war und alles in Ordnung schien. Heute war er bloß bei Bedarf dort, also wenn jemand sein Auto brachte und sein Vater zu betrunken war, um sich selbst darum zu kümmern. In Hawks gingen nicht allzu viele Autos kaputter, als sie es ohnehin waren. Und solange sie fuhren, fuhren sie eben – egal, ob sie dabei rasselten oder klapperten, ob sie eine Rußwolke ausstießen oder der Rost von ihnen bröselte. Im Sommer hielt man es sogar mit einem Fenster aus, das sich nicht nach oben kurbeln ließ. Etwa ein Wagen wurde pro Woche in die Werkstatt gebracht. In den vergangenen drei Jahren war es Cameron gewesen, der sich um jede einzelne dieser Klapperkisten gekümmert hatte. Gelegentlich stieß sein Vater dazu, um über die Unordnung zu nörgeln oder allgemein sinnloses Zeug zu lallen, was jedoch nur so lange andauerte, bis die Werbepause zu Ende war und wieder Baseball gespielt wurde.
William und Cameron McCready wohnten in einem kleinen, einst sehr hübschen Haus direkt am See. Sie lebten von den kümmerlichen Einkünften aus den Reparaturen, der Witwen- und Halbwaisenrente und dem Gewinn aus Camerons Geschäften. Offenbar glaubte sein Vater noch immer, dass seine Werkstatt prächtig lief. Nie fragte er, ob es Schwierigkeiten gab oder wie genau Cameron es anstellte, den Kühlschrank zu füllen. Für William geschah das einfach, und solange Bier und Whiskey da waren, brauchte das Wie schließlich nicht diskutiert werden.
Niemals wollte Cameron so werden wie sein Dad, so jämmerlich und schwach, so verachtenswert. Der Gedanke daran, ein Leben lang in Hawks oder sonst wo Schrottkisten fahrtüchtig zu machen, schreckte ihn ab und flößte ihm Furcht ein. Es war lediglich die letzte Option, wenn sich gar nichts anderes bot.
Doch was war nun sein Traum? Ganz sicher wollte er nicht von Sozialhilfe leben, doch er war ebenso wenig der Typ für irgendeine anständige Ausbildung, für einen Job im Büro oder als Verkäufer. Nein, es war einfach nicht sein Ding, Leuten überteuerten Schrott anzudrehen, an deren angeblichen Wert er selbst nicht glaubte.
Als zweifacher Sitzenbleiber würde er kein Stipendium bekommen, und ein Studium selbst zu finanzieren war unmöglich. Ungeachtet dessen wollte er nicht einmal wirklich zur Uni, sah er doch keinen Sinn darin, der einen scheinheiligen Gesellschaft zu entfliehen, um sich in eine der vielen anderen zu integrieren. Zwar gab es Studiengänge, die ihn durchaus interessierten, Literatur beispielsweise, doch das wusste niemand und würde nie jemand nachvollziehen können. Und was sollte er am Ende überhaupt damit anfangen?
Auch wenn Cameron noch nicht wusste, was er vom Leben wollte, so war er sich jedoch sicher, dass er es in Hawks weder erfahren noch bekommen würde. Nicht inmitten dieser engstirnigen und angestaubten Langweiler, denen man nicht einmal vom Universum zu erzählen brauchte, da sie glaubten, dass das Ende der Welt an den Landesgrenzen der USA lag. Nicht inmitten der Jäger, die sich sonntags nach der Kirche in Camouflage und Orange kleideten, das Gewehr aus dem Schrank holten und Rehe abknallen gingen, um die bluttriefende Beute in ihren Gärten zur Schau zu stellen. Nicht inmitten all der unmotivierten und schlecht bezahlten Pädagogen, die selbst keine Lust hatten, zur Schule zu gehen, und sich folglich nicht sonderlich um diejenigen scherten, die wegblieben. Sie meinten, seine Gründe zu kennen, und warteten auf den Tag, an dem er das letzte Mal kam, um endgültig einen Haken hinter seinen Namen zu setzen.
Während der letzten beiden Jahre war Cameron so einige Male bereits auf dem Schulweg gewesen, hatte dann jedoch auf halber Strecke beschlossen, seinen Tag anders zu verbringen. Mindestens genauso oft hatte er vor einem Wissenstest gehockt, auf die Fragen gestarrt, die Antworten im Geist heruntergebetet und sich nicht überwinden können, sie aufzuschreiben, sondern stattdessen ein Nickerchen gehalten. Dies alles aus Wut und mit der Absicht zu provozieren. Zu Beginn hatte es noch Wirkung gezeigt, doch die ließ nach, und am Ende blieb Cameron bloß die faulige Gewissheit, dass er sich selbst im Weg stand. Es war ein Leichtes gewesen, zum Trouble Boy zu werden. Ganz so einfach konnte er nun nicht zurück. Schon allein, weil er keine positiven Reaktionen von den Menschen in Hawks wollte und weil das, was sie als Dreck auf seiner Weste sahen, in seinen Augen nicht schmutzig war, sondern einen Teil seines Charakters ausmachte – von ein paar Dingen einmal abgesehen.
Cameron focht einen stillen inneren Kampf. Unbedingt wollte er ihn gewinnen und dann nichts wie weg aus Hawks. In bestimmten Momenten würde es ihn sicher Überwindung kosten und ihm schwerfallen, taub für das Geschwätz zu bleiben, doch um seiner selbst willen versprach er sich durchzuhalten.
Bald drang Spikes Stimme, die zwischenzeitlich ein monotones Summen gewesen war, wieder deutlicher in sein Bewusstsein. Camerons Blick klärte sich, sein Geist kehrte in seinen Körper zurück. Er registrierte die Sandkörner, die an seinen Schnürsenkeln hingen und sich am Rand der Sohlen seiner Boots festgesetzt hatten. Der Wind spielte mit einer seiner dunklen Haarsträhnen und ließ sie vor seinem Gesicht tanzen. Es roch nach Sonne, nach Trockenheit und nach dem Kiefernwald in seinem Rücken. Die Schatten der Wolken lagen auf dem See, der kleine von Gischt bedeckte Wellen zum Ufer trug. Am Horizont war ein Frachter zu sehen.
„Kommen da vorn nicht Amy und Wie-ist-ihr-Name?“
Cameron blickte den Strand hinunter zu den beiden Gestalten, die sich ihnen näherten. „Stacy“, murmelte er.
„Genau, Amy und Stacy!“ Spike stieß ihm in die Seite. „Hey, da ist noch ein Vorteil von Ehrenrunden. Irgendwann kennt man die Namen aller Chicks, sogar die der jüngeren und weniger hübschen.“ Von plötzlichem Argwohn erfasst, runzelte er die Stirn. „Ich frag mich, was die hier machen? Bestimmt keinen Strandspaziergang, wo in ihrem Petoskey doch die Hölle los ist.“
„Ich hab Amy gesagt, wo sie mich findet.“
„Wieso?“
„Weil sie es halt wissen wollte. Weil sie kein Zeug mehr hat.“
„Möglicherweise will sie auch eine Nummer schieben?“
„Kann schon sein“, stieß Cameron leiser aus, da die Mädchen in Hörweite kamen. „Und jetzt halt die Klappe!“
Die beiden Mädchen lebten in Petoskey, wo ihren Vätern die Segelschule im Hafen gehörte. Sie waren überzeugte Cheerleader, Organisatorinnen der Highschool-Veranstaltungen und gehörten zu den Lieblingen der Lehrer. Während Stacy gehemmt wirkte, begrüßte Amy die Jungs, insbesondere Cameron, mit einem Lächeln.
„Wie schaut’s, kommt ihr heute Abend nach Petoskey? Die Footballsaison wird eröffnet. Die Northmen ziehen gegen Charlevoix Rayders aufs Feld.“
Cameron bedachte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue und verkniff sich die Antwort. Spike prustete los.
Amy seufzte. „Ja, schon gut! Wie konnte ich nur fragen.“ An Cameron gewandt fuhr sie fort. „Also, hast du was dabei? Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen in einer Stunde beim Training sein. Lorraine, die dumme Gans, hat Probleme mit der Pyramide.“ Sie schüttelte den Kopf, wobei die blonde Mähne um ihr hübsches Gesicht wippte. „Keine Ahnung, wieso Miss Webber sie aufgenommen hat.“
„Sie ist die Nichte ihrer Freundin, Mrs Hazelwood“, erklärte Stacy. „Wusstest du das etwa nicht?“
Spike kam Amys Erwiderung zuvor. „Hey, könnt ihr das nicht später besprechen? Es ist nicht so, dass es uns nicht interessiert, ich fürchte nur, es stört Camerons Ritual. Er hat heute seinen Schweigetag.“
„Ich steh total auf schweigsame Männer.“ Amy rückte näher und raunte in Camerons Ohr. „Ich denke, ich bin in der Lage, dir den einen oder anderen Laut zu entlocken. Wo hast du den Kram? Im Auto?“
Er nickte.
„Dann begleite ich dich, okay?“
„Was ist mit deinem Captain? Irgendwann erfährt er davon.“ Er warf einen vielsagenden Blick zu Stacy hinüber, die mit dem Finger im Sand malte. „Ich meine ja nur, wenn das geschieht, bin nicht ich es, der ein Problem hat.“
Amy stand auf und zog ihn mit sich hoch. „Komm schon, großer Schweiger, vergiss den Footballkapitän!“
Cameron wehrte sich nur halbherzig. Er ließ zu, dass sie seine Hand nahm, ihn kichernd in Richtung des Wagens zerrte, die hintere Tür öffnete und ihn hineinschubste.
3. KAPITEL
August 2007
Haus Nummer sieben in der Cedar Road in Hawks war ein Unikat. Es war das kleinste von allen, aber auch das eigenwilligste, was seine Bauart betraf. Es stach hervor aus der Reihe der gewöhnlichen Holzhäuser, die sich lediglich im Farbanstrich voneinander unterschieden.
In den ersten Tagen nach ihrer Ankunft hatte Charlotte oft am Strand gesessen, mal mit dem Gesicht zum See und den Gedanken in Deutschland, mal mit dem Blick auf die Gärten, die nicht durch Zäune abgetrennt waren. Offenbar schien jeder genau zu wissen, wo entlang die Grenze seines Grundstücks verlief. Vielleicht spielte es aber auch keine Rolle.
Hinter dem unbefestigten Weg begann der Strand, der Privatgelände war. Auf seinen ersten Metern wuchsen wilde Sträucher, Eschen und eine einzelne kräftige Ulme. Das Gras war stachelig und verlief im Sand. Auf manchen Abschnitten gab es aus Bohlen befestigte Terrassen mit Sonnenschirmvorrichtungen und Feuerstellen, wohingegen andere unbesucht schienen.
Haus Nummer eins war beigefarben, eine die meiste Zeit über unbewohnte, leicht heruntergekommene Hütte, die einem Mann aus Florida gehörte, der es ausschließlich zur Jagdsaison nutzte. Der Vorgarten war unbepflanzt, wie auch die Rabatten ringsherum. Der Rasen musste dringend gemäht werden.
Haus Nummer zwei war hellgrün – aus der Ferne betrachtet zumindest. Kam man näher, stellte man fest, dass die Farbe abblätterte. Auch hier gab es keinerlei Blumen oder Büsche, nur eine lange, halbwegs ordentliche Rasenfläche, einen wackeligen Geräteschuppen und einen Anbau, der den seltenen Geräuschen nach zu urteilen eine Werkstatt war. Über seine Bewohner schwieg Lucy sich aus, und Charlotte hatte lediglich einmal einen bärtigen Mann mit tief sitzendem Basecap beim Mähen beobachtet.
Im dritten, hellblauen Haus lebte ein Ehepaar mit ihren zwei kleinen Jungs und drei Hunden, die tagsüber einen ziemlichen Lärm veranstalteten. Der Mann ging einem Job nach, die Frau war zu Hause, kümmerte sich um die Kids, die Tiere und um den Garten, der gut in Schuss war. Zudem waren ein Spielplatz und ein Sandkasten aufgebaut. Lucy mochte die Familie, sprach darüber, wie schwer sie es mit den langen Arbeitszeiten des Vaters hatten, und brachte den Kindern manchmal Bücher aus ihrem Laden mit.
Das vierte Haus war altrosa und auffällig kitschig. Charlotte schauderte bei seinem Anblick. Dessen Eigentümerin, die verwitwete Mrs Miller, war eine gute Freundin ihrer Großmutter. Sie hatte Lucy und ihre deutsche Enkelin einmal auf ein Glas Limonade eingeladen. Charlotte war schockiert gewesen, angesichts all der Puppen, die in jeder Ecke des Hauses platziert waren, sogar auf dem Toilettenspülkasten. Sie hatte sich schrecklich beobachtet gefühlt und gar nicht gewusst, in welcher Ecke des ihr angebotenen Sessels sie sitzen sollte, da dort schon drei Puppen hockten. Während sich Mrs Miller und Lucy unterhielten, verfolgte Charlotte mit einer Mischung aus Faszination und Gräuel das Programm eines Verkaufssenders, der Puppen mit allerliebsten Frätzchen, Kleidchen und Accessoires anbot.
Haus Nummer fünf war wieder ein beigefarbenes, an dessen Rückseite eine Treppe auf eine Terrasse vor einer Fensterfront führte. Bei schönem Wetter saßen dort der Bürgermeister von Hawks und seine Frau beim Abendessen oder zum Lesen. Sie gingen mit gutem Beispiel voran, indem sie einen tadellos gepflegten Garten mit Gemüse und Blumenbeeten und akkurat gemähtem Rasen vorwiesen. Beinahe an jedem Wochenende sah man sie schuften. Sie waren nett, durchaus interessiert an Charlottes Herkunft und weltgewandter als die meisten anderen Einwohner von Hawks, denn sie besaßen ein Segelboot, das in Petoskey vor Anker lag. In jungen Jahren hatten sie damit die Karibik und den Atlantik bereist. Heute unternahmen sie hauptsächlich Kurztrips über die großen Seen.
Im sechsten, hellgelben Haus wohnte eine weitere Freundin von Lucy, Miss Jacob, die nie verheiratet gewesen war und gern Bridge-Abende auf ihrer Gartenveranda veranstaltete. Sie, Mrs Miller und Lucy teilten sich die Kosten für einen Gärtner. Charlotte war von Miss Jacob mehrmals in ein Gespräch verwickelt worden und mochte sie nicht sonderlich, denn die alte Dame lästerte für ihr Leben gern. Sprach sie mit Lucy, erboste sie sich über Du-weißt-schon-wen. Sprach sie mit Charlotte, redete sie von den Heiden, denen es an Moral und Anstand mangelte. Diese Makel hafteten vor allem jenen Leuten an, die ihr Haus nicht strichen, ihren Garten nicht hübsch machten und nicht zur Kirche gingen. Was Lucy und den letzten Punkt betraf, so drückte Miss Jacob ein Auge zu, da die Freundin sich sonst nichts zuschulden kommen ließ und eine ausgezeichnete Bridge-Spielerin war.
Und schließlich Haus Nummer sieben. Lucys rotes Backsteinhaus, das eher in eine irische Einöde gepasst hätte als an diesen Ort. Die untere Etage bestand praktisch nur aus dem sogenannten Partyraum. Da das Haus, wie alle anderen in der Straße, in einen Hang gebaut war, konnte man diese untere Etage nur von der Rückseite, also vom Garten aus, begehen. Die obere Etage unterteilte sich in ein kleines Wohnzimmer mit einem Panoramafenster, das einen grandiosen Blick auf den Lake Michigan bot, in eine zweckmäßig eingerichtete Küche, das Esszimmer, das Bad, Lucys Schlafzimmer und schließlich Charlottes Zimmer. Lucy hatte zugegeben, das Zimmer neu eingerichtet und sich dabei mental um fünfzig Jahre verjüngt zu haben. Das Bett war mit rot-weiß gestreifter Bettwäsche bezogen, deren Muster sich in den Vorhängen wiederholte. Auf der Kommode standen Glasfiguren, hauptsächlich Delfine und Ballerinen, die Liz gehörten. Lucy überließ es Charlotte, den Nippes wegzuräumen und durch eigenen zu ersetzen, was auch für das Porträt der traurigen Ballerina im roten Tutu galt, das die Wand gegenüber der Tür zierte. Lucy verbat sich jedoch, dass es durch Poster von nackten Männern oder kiffenden Rockstars ausgetauscht wurde, woraufhin Charlotte lachte und versprach, vorerst nichts verändern zu wollen.
Lucys Buchladen befand sich auf der Hauptstraße neben wenigen anderen Geschäften: dem winzigen Supermarkt, dem Spirituosengeschäft, dem Friseur und einem Laden, in dem alles einen Dollar kostete.
Da es in Hawks nicht viele Leser gab, verkaufte Lucy auch preiswerten Modeschmuck, Geschenkartikel und Grußkarten. Bücher allein hätten sich nicht rentiert, und Lucy behielt sie hauptsächlich zu ihrer eigenen Freude im Sortiment. Seit ihrer Kindheit waren die Erzählungen aus fernen Ländern, die fabelhaften Traumgeschichten und später auch die Biografien berühmter Zeitgenossen eine Wechselwelt für sie gewesen, die ihr für eine Weile alle Sorgen und alle Pflichten abnahm. Lucy ließ sich gern entführen, doch sie kehrte ebenso gern zurück und betrachtete das Gelesene mit dem nüchternen Auge der Wirklichkeit.
An regnerischen Tagen begleitete Charlotte ihre Großmutter in den Buchladen. Im vorderen Teil des Geschäfts waren die Kinkerlitzchen ausgestellt, im hinteren, dunkleren Bereich gab es die Bücher. Lucy hatte dort eine Schmökerecke eingerichtet, die kaum ein Kunde nutzte. Dorthin zog sich Charlotte gern zurück und las.
Sie bemerkte bald, dass die Hündin ihrer Herrin für gewöhnlich auf Schritt und Tritt folgte. So auch in den Laden. Hier leistete sie wiederum Charlotte Gesellschaft. Nur gelegentlich tapste sie nach vorn, um einen Besucher zu begrüßen und sich einen Leckerbissen abzuholen.
Ließ sich an solch einem Regentag doch die Sonne blicken, ging Charlotte mit Shelly spazieren, was Lucy begrüßte, denn durch den Laden fehlte ihr oftmals die Zeit dazu. Außerdem glaubte sie, ihre Enkelin würde so die Stadt schneller kennenlernen.
Sich in Hawks zu verlaufen war ein Ding der Unmöglichkeit. In weniger als zwei Stunden war Charlotte jede Straße abgegangen und hielt die Cedar Road für den mit Abstand schönsten Platz. Da sie die Hündin mit sich führte, wusste jeder, zu wem sie gehörte. Man grüßte sie und wünschte ihr einen schönen Aufenthalt, was Charlotte sehr nett fand. Auf den ebenfalls häufig ausgesprochenen Segen Gottes wusste sie nicht zu reagieren, aber die guten Wünsche für die Schule nahm sie dankend entgegen, denn allmählich wurde sie nervös.
Was diesen Zustand noch verschlimmerte, war der Fakt, dass ihr fast ausschließlich alte Leute begegneten. Ein einziges Mal hatte sie ein Mädchen in ihrem Alter gesehen, deren Reaktion auf sie in einer entsetzten Beäugung und dem Wechseln der Straßenseite bestand. Und das, obwohl sich Charlotte an diesem Tag mit der Wahl ihrer Kleidung eher zurückgehalten hatte. Sie trug einfache Shorts, ein langärmeliges Oberteil, das schief über ihre Schultern fiel und die breiten Träger des Hemdes darunter zeigte. Die Locken hatte sie zu einem zerwuselten Dutt am Hinterkopf zusammengesteckt. Eine breite Sonnenbrille mit roten Gläsern saß auf ihrer Nase. Vielleicht, so grübelte Charlotte, hatte sich das Mädchen wegen ihrer Boots und der schwarz-roten Ringelstrümpfe erschreckt. Seit sie in Michigan war, hatte sie niemanden gesehen, der nicht Turnschuhe und Tennissocken trug. Sogar ihre Großmutter tat das.
Nach diesem Spaziergang fragte Charlotte Lucy nach den Jugendlichen in der Stadt. Lucy, die gerade dabei war, den Laden zu schließen, erklärte ihrer Enkelin nicht nur, mit wem aus Hawks sie zur Schule gehen würde, sondern unterrichtete sie bei dieser Gelegenheit über alle Familienmitglieder, Haustiere und Ahnen. Offenbar empfand sie dies ermutigender als das Nennen von nur drei Namen.
„Also drei Mädchen?“, schlussfolgerte Charlotte mittendrin.
„Nein, vier“, entgegnete Lucy mit tadelndem Unterton, zog den Schlüssel von der Kasse ab und hängte ihn an einen Haken unter dem Tresen. „Du musst dir angewöhnen, mich ausreden zu lassen. In diesem Land gehört es sich nicht, Erwachsenen ins Wort zu fallen.“
Genau!, grummelte Charlotte im Stillen. Wie es sich beispielsweise auch nicht gehörte, von der falschen Seite an ein Büfett heranzutreten, wenn sich dort gerade jemand bediente. Selbst dann nicht, wenn man nur den Gurkensalat wollte, der ganz vorn stand, und nicht erst an der Suppe, dem Braten, dem Brot, dem Fisch und den Kartoffe
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