Tammy Lincoln

Der Zeitentaucher - Mit Schiff, Charme und Kanonen
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Tammy Lincoln

1. KAPITEL
Olivia kletterte gewandt um die Galionsfigur herum, die fast doppelt so groß war wie sie, und brachte die üppigen Brüste der Schutzpatronin mit Kokosöl zum Glänzen. Der laue Tropenwind trug anzügliche Bemerkungen der Piraten vom Deck zu ihr herüber.
„Halts Maul, Einauge!“, rief sie, „noch so ’ne „Respektlosigkeit und ich sorg dafür, dass du heute Abend mit Seife gewaschen wirst!“
Die Männer lachten. Olivia Leilani Schmidt war die Tochter des Käpt’ns und konnte sich alles erlauben. Zehn Jahre lang durchkreuzte die 22-jährige nun schon mit der verwegensten Seeräubercrew südlich von Honolulu die Weltmeere. Die Hälfte der Truppe kannte sie seit ihrer Kindheit; das war ihre Familie. Die später Hinzugekommenen hatten beim Anheuern Mann für Mann eine klare Ansage vom Chef gekriegt: „Finger weg von meiner Tochter! Falls nicht, wirst du bei lebendigem Leib ein Stück kürzer gemacht“ – an dieser Stelle pflegte er besonders boshaft zu grinsen – „und achteraus als Haifutter angehängt.“
Die Stimmung war gut an diesem Apriltag des Jahres 1852. Die Regenzeit schien vorüber zu sein. Höchste Zeit. Olivia hatte schon begonnen, morgens beim Aufwachen nachzuschauen, ob ihr Schwimmhäute zwischen den Fingern wuchsen. Endlich lagen sie vor Cape Tribulation, jenem geheimnisumwitterten Ort, dessen Name Olivia seit ihrer Kindheit vertraut war. „Kap des Leidens“ hieß der Name übersetzt, doch ihr kam es hier paradiesisch vor.
Der Käpt’n unternahm gerade mit fünf seiner erfahrensten Männer einen Erkundungsgang. Selten hatte Olivia ihn so aufgekratzt erlebt wie beim Aufbruch heute Morgen, auch wenn er versucht hatte, seine freudige Erregung unter dem üblichen Gegrummel zu verbergen. Olivia ölte nun auch das himmelblau lackierte freizügige Gewand der Galionsfigur ein, das von der Taille abwärts in Falten glockig auseinander fiel und so geschnitzt war, als presste der Wind einen zarten Stoff gegen den wohlgeformten Leib. Hingebungsvoll polierte Olivia dann die langen schwarzen Haare der „Hinakua“ und deren helles Gesicht mit dem leuchtend roten Mund. Die Schlitzaugen waren dem Künstler nicht ganz so gut gelungen: Olivia schwankte, ob ihre Galionsfigur einfach nur eine verschmitzt lächelnde Frau darstellte oder ob sie vielleicht ursprünglich eine asiatische Göttin hatte werden sollen. Aber letztlich war es ihr auch egal. Sie mochte die Figur, und diese Arbeit bereitete ihr ein sinnliches Vergnügen.
Während Olivia entspannt in den Seilen hing und den Rundungen der Figur nachspürte, hörte sie endlich wieder Singvögel statt nur kreischende Seevögel. Endlich nahm sie wieder Erde und Pflanzen wahr. Erst gestern bei Sonnenuntergang hatten sie geankert und die Segel geborgen. Jetzt konnte sie Orchideen und würziges Holz riechen, denn wie es sich gehörte, ankerte die „Hinakua“ gegen den Wind, und gegenwärtig wehte er ablandig. Hier am oberen Ende des Bugs konnte Olivia wie von einem Logenplatz aus die nordaustralische Regenwaldküste betrachten.
Hinter den leuchtenden Grüntönen der Palmen, Mangroven und anderer Urwaldriesen zog sich eine von grauem Dunst weich gezeichnete Gebirgskette entlang. Olivia atmete tief durch. Konnte es etwas Aufregenderes geben, als die Welt zu entdecken? Nie würde sie verstehen, dass Rosa es selbst an einem Tag wie diesem vorzog, wegen ihrer Schönheitspflege in der gemeinsamen Kajüte zu bleiben – empfindliche Haut hin, zarter Teint her.
Olivia genoss diesen Ausblick, den vor ihr wahrscheinlich noch keine Frau gehabt hatte. Und im Bauch spürte sie ein Kribbeln vor lauter Vorfreude auf den Bericht des Erkundungstrupps. Ob es an Land wohl gefährlich war, ob hier ganz fremde Tiere und Pflanzen lebten? Vielleicht durfte sie ja sogar im Meer schwimmen. Sie sehnte sich danach, sich ausgiebig zu bewegen. Und die bunten Fische, die durch das kristallklare Wasser zogen, näher zu betrachten. Mit Schwung setzte sich Olivia auf die Schultern der Galionsfigur und ließ ihre Beine baumeln. Makellose, braun gebrannte Beine, die in einer Kniebundhose aus naturfarbenem Kattun steckten. Am rechten Oberschenkel war ein Dolch mit einem Ledergurt befestigt. Olivia trug ein weißes Rüschenhemd, dessen Ärmel herausgerissen waren. Eine rote Schärpe, die schon bessere Tage gesehen hatte, betonte ihre Taille. Die langen schwarzen Haare hatte sie heute Morgen wie meistens bei großer Hitze mithilfe eines Stöckchens hochgesteckt. Das gleißende Licht blendete sie, und sie hielt beide Hände über ihre empfindlichen blauen Augen.
Das also war Cape Tribulation: ein Felsvorsprung im türkisfarbenen Korallenmeer, daneben ein Strand, dahinter dichter Urwald. Und darin australische Ureinwohner. Von ihnen hatte Olivia schon einiges gehört: angeblich Wilde, Tieren ähnlicher als Menschen – aber hatten die weißen Eroberer ihre Leute nicht auch als „Wilde“ bezeichnet? Rauchfahnen von Feuerstellen verrieten die Gegenwart der Aborigines.
Olivia wusste, dass dieser Ort irgendetwas mit ihrem Urgroßvater zu tun hatte: Adalbert Schmidt aus Westerstede bei Oldenburg in Deutschland. Ein einfacher Matrose, der den berühmten James Cook bei allen drei Weltumseglungen begleitet hatte. Er war im Juni 1770 dabei gewesen, als die „Endeavour“ am Great Barrier Reef vor der Ostküste Australiens im äußersten Norden auf Grund gelaufen war und sieben Wochen lang in einer Flussmündung repariert werden musste. Olivia salutierte halb im Spaß, halb im Ernst in den Wind und rief mit klarer Stimme: „Da sind wir endlich, Adalbert!“
Ihr Vorfahr war auch dabei gewesen, als Kapitän Cook am 14. Februar 1779 auf Befehl der hawaiischen Häuptlinge erschlagen wurde. Die Knochen des großen Entdeckers hatten sie hochachtungsvoll an die Mannschaft zurückgegeben. Daraufhin bestatteten die Seeleute Cooks Überreste in einer Meeresbucht von Big Island Hawaii – und segelten eiligst davon. Alle, bis auf Adalbert Schmidt. Der hatte sich nämlich unsterblich verliebt und blieb. Kein Buch vermerkte diesen Schlenker der Geschichte.
„Mann übel Bold! Mann übel Bold!“ Hop Sings aufgeregte Stimme riss Olivia aus ihren Gedanken. Mann über Bord? „Mausescheiße!“, fluchte sie. Das konnte doch nicht sein! Das hätte sie doch mitgekriegt bei ihrem feinen Gehör. Der Chinese, der gerade Abfälle aus der Kombüse über Bord schütten wollte, wies auf einen Schwarm Barrakudas. Mindestens fünfzig beinlange Pfeilhechte umkreisten etwas: Es sah aus wie ein Mensch, aber im nächsten Moment kamen Olivia Zweifel. Immer mehr neugierige Fische reihten sich in das Meereskarussell ein. Das Wesen in ihrer Mitte trieb auf dem Bauch.
Es war schwarz. Ein Mohr vielleicht? Olivia kannte einige Mohren, es gab viele davon unter den Piraten, zumeist entlaufene Sklaven. Nun ließen zwei Männer ein Rettungsboot zu Wasser und zogen das Wesen mit einem Bootshaken zu sich heran. Sie bewegten sich vorsichtig. Denn Barrakudas waren bekanntlich äußerst nervöse Tiere. Hektische Bewegungen oder auch das Blinken von Metall konnten sie in angriffslustige Bestien verwandeln.
Der Mohr hatte Flossen statt Füße. Auf dem Rücken trug er einen seltsamen Doppelhöcker. Olivia schwang sich aufs Deck zurück und lief zur Reling, wo die anderen standen, ungefähr vierzig Mann. Sie hielt die Luft an. Hoffentlich kenterte das Boot nicht!
Keiner an Bord außer ihr konnte schwimmen. Die Piraten waren stolz darauf. Als echte Seeleute wollten sie nicht noch stundenlang gegen das Ertrinken kämpfen, wenn dereinst ihre Stunde schlug. Dann sollte alles schnell gehen. Als Olivia schwimmen gelernt hatte, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass sie ihr Leben auf einem Piratenschiff verbringen könnte.
Wie durch eine Nebelwand hörte sie manchmal, was ihre Großmutter auf Hawaii immer zu ihr gesagt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war: „Du bist eine Delfinfrau, vergiss das nie, Leilani.“ In ihrer Familie pflegte der Gott gewordene Geist der Ahnen, der ’aumakua, hin und wieder in Delfine zu schlüpfen. Wohl deshalb spürte sie eine enge Verbindung zu diesen Meerestieren. „Du hast es im Blut, Leilani.“
So lernte die kleine Hawaiianerin mit dem deutschen Urgroßvater schwimmen und surfen wie andere gehen oder reiten. Für sie war es das Selbstverständlichste auf der Welt. Bis ihre Welt aus den Fugen geriet. Bis eine Masern-Epidemie über die Ureinwohner hereinbrach, so tödlich wie die Pest für haoles, die Weißen, und Olivia alle Menschen raubte, die sie liebte. Bis auf ihren Vater, der damals weit weg auf hoher See war. Vielleicht hatte sie selbst nur deshalb überlebt, weil ein Schuss haole – Blut in ihren Adern floss.
Damals nahmen sich Missionare ihrer an. Und nur beim Schwimmen und Tauchen konnte Olivia Leilani ihren Kummer vergessen.
Glücksgefühle durchströmten sie jedes Mal, wenn Delfine in ihrer Nähe waren oder sie sogar ein Stück begleiteten. Doch die eifernden Christen wollten ihr das Schwimmen abgewöhnen. Die Missionare verboten das Surfen, den Hulatanz, die Götter der Vorfahren. Sie verletzten uralte kapus und legten neue Tabus fest: Sie lehrten Olivia, was angeblich die wahren Sünden seien. Sie sorgten dafür, dass Olivias Erinnerungen und die ihres Volkes verblassten.
Die Christen konnten ihr wie den anderen Menschen auf den Hawaiiinseln vieles abgewöhnen, aber nicht die Lust am Dahingleiten und Spielen in den Wellen. Und auch nicht das Bedürfnis nach Reinigung durch die weißen Schaumkronen; sie behielt für Olivia immer einen rituellen Charakter. Wenn sie in das Salzwasser eintauchte, spülte es mit seiner Gischt alles Böse und Belastende von ihr ab. Oft schlich sie sich nachts aus dem Waisenhaus, weil das Meer sie rief.
Verschwommen hörte Olivia noch die Weissagung ihrer Großmutter: „Eines Tages wird ein Mann mit goldenen Haaren kommen. Seine Haut wird hell sein wie die von Lono. Auch er kann schwimmen und tauchen wie ein Delfin. Die Götter schicken ihn zu dir. Ich sehe einen silbernen Vogel … Und ihr habt einen Auftrag … den Kreis … vergiss das nie, Leilani!“
Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, worin dieser Auftrag bestand. Überhaupt war das mit den Weissagungen auf Hawaii so eine Sache; das war ja schon einmal gründlich danebengegangen … Deshalb hatte Cook sterben müssen. Die kahuna po’o, die höchsten Priester ihres Volkes, hatten seit Jahrhunderten vorhergesagt, dass der hellhäutige Gott Lono eines Tages nach Hawaii zurückkehren würde. Als Cook die Inseln erreichte, hielten sie ihn für Lono.
Der Kapitän ließ sich wochenlang als Gott feiern. Er und seine Mannschaft aßen die letzten Vorräte der Hawaiianer auf, sie fraßen regelrecht die Felder und Gärten leer. Die Eingeborenen begannen zu hungern, und als sie endlich merkten, dass Cook keineswegs allmächtig oder gar unsterblich war, sondern sie betrogen und ausgenutzt hatte, erschlugen sie ihn. Und verzehrten sein Fleisch. Immerhin erwiesen sie ihm mit ihrem Kannibalenritual eine Ehre, die nur hohen Feinden gewährt wurde.
Drei Jahrzehnte später predigten die christlichen Missionare auf Hawaii, dass alle alten kahuna – Traditionen bloß gefährlicher Aberglaube seien. Olivia wusste nicht, wem und was sie glauben sollte. Sie hatte die raue Wirklichkeit kennen gelernt: Kämpfe und Verletzungen, dreckige Hafenkaschemmen und Huren, geschlechtskranke Matrosen, opiumabhängige Seeräuber. Sie verließ sich lieber auf sich selbst statt auf Priester oder Prophezeiungen. Sie nahm ihr Leben selbst in die Hand. Und niemals wollte sie die Kontrolle darüber verlieren!
Wenn sie einen Mann brauchte, nahm sie sich einen – aber niemals an Bord. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Olivia fand im Übrigen, dass diese körperlichen Dinge zwischen Mann und Frau enorm überschätzt wurden. Insgeheim träumte sie zwar von einem Mann, der ihr die Welt erklären konnte. Der ganz viel über Wissenschaften, Kunst und fremde Länder wusste. Der sie allerdings nie-niemals seine Überlegenheit spüren lassen dürfte. Doch wo sollte es wohl ein so seltenes Exemplar geben? Sie rechnete besser nicht damit, ihm jemals zu begegnen.
Schwimmen, Tauchen, Einssein mit dem Element Wasser – das brachte ihr wirkliche Befriedigung. Und aus all diesen Gründen beherrschte sich Olivia meist selbst dann, wenn die Gelegenheit günstig war, in den Häfen und an Land. An Verehrern mangelte es nie. Aber sie wollte weder Syphilis bekommen noch schwanger werden. Und solange sie keinen silbernen Vogel sah …
Olivia schüttelte sich. Dabei löste sich das Stöckchen aus ihrem Haar, und die blauschwarze Pracht fiel in großen Wellen bis zu den Hüften. Sie kümmerte sich nicht weiter darum.
Die Männer zogen das Wesen unter aufgeregten Rufen an Bord und legten es mit dem Rücken gegen den Großmast. Es war bewusstlos. Seine dicke schwarze Haut wirkte eher wie eine Hülle. Im Gesicht hatte es eine Art Rüssel, ähnlich einer überdimensionalen Wespe. Vorsichtig näherte sich Olivia.
„Vielleicht ist das ein Seemensch“, überlegte sie laut.
Die bärtigen Kerle, die im Halbkreis um die Kreatur herumstanden, erschauderten. Beim letzten Besäufnis hatten sie sich gegenseitig übertrumpft mit Geschichten über den Mann aus alten Zeiten, der noch immer in den Tiefen des Meeres auf Menschenseelen lauerte.
„Meine Seele kriechst du nich!“, brüllte der einäugige John plötzlich und hieb sein Messer in die Flosse. Das Wesen schien keinen Schmerz zu empfinden. Mutig geworden, knuffte ihn nun der Schiffsjunge Benny in den Rücken.
„Deine Seele hat doch sowieso längst der Teufel!“, hörten sie Rosa rufen, die aus der Luke nach oben geklettert kam, aufgedonnert wie zu einer Soiree. Geschminkt und geschnürt, behängt mit erbeutetem Schmuck. Alles für den Fall, dass der Kapitän an Land die Bekanntschaft eines Häuptlings machte und dass der sie zu einem Empfang einlud. Man musste auf alles vorbereitet sein als Dame von Welt. Ihr lag es nun mal, zu repräsentieren. Ein fliederfarbenes Batistkleid umflatterte Rosas mollige Figur.
„Volle Takelage!“, kommentierte Jan, der holländische Steuermann, halblaut und grinste breit.
Mit einem hellgelben Sonnenschirm aus Seide über den sorgfältig aufgesteckten rotblonden Haaren trippelte Rosa so entschlossen heran, wie es ihre mit roséfarbenen Federn verzierten Pantöffelchen zuließen. Ihrem Blick auf Olivia folgte ein kurzer „Du-läufst-ja-schon-wieder-barfuß!-So-heiratetdich-nie-einer“-Seufzer. Olivia antwortete wie immer mit ihrem „Gib’s-auf-Rosa!-Ich-will-keinen-und-hier-an-Bord-sowieso-nicht“-Blick. In diesem Moment hustete das seltsame Wesen. Es spuckte den Rüssel aus, erbrach einen Schwall Wasser.
„Wenn das kein Mann ist, will ich nicht länger Rosa heißen!“ Und wenn sich jemand auf dieser Welt mit Männern auskannte, dann ja wohl sie. Seit sie vor dreißig Jahren ihre Unschuld an einen Gesangslehrer in Budapest verloren hatte, waren Männer ihr Spezialgebiet. Rosa ging schnurstracks auf das hustende Wesen zu und kniete sich daneben, obwohl dabei ihr Hofstaat nass wurde. Sie brachte es in die Anti-Erstickungslage wie schon ungezählte volltrunkene Kavaliere zuvor in ihrem Leben und sagte mit Expertinnenblick: „Ist sogar ein Bild von einem Mann!“
Sie lachte mit einem Glucksen in der hohen Stimme. „Ein Prachtexemplar, wenn mich meine Intuition nicht täuscht!“
Beherzt zog sie dem Wesen die glatte schwarze Haube vom Kopf. Feuchte wirre Haare kamen zum Vorschein, in undefinierbarer Farbe und zu einem Zopf gebunden. Das männliche Gesicht war bleich. Und, was die Umstehenden sehr irritierte, völlig glatt und nackt. Bartlos. Um den Hals baumelte eine auffällige Goldkette mit rundem Anhänger. Algenreste verdreckten das Schmuckstück. Sein Motiv erinnerte an die Sonne.
Jean-Pierre, der erste Offizier und Stellvertreter des Käpt’ns – ein Fechtkünstler, von dem Olivia schon viel gelernt hatte –, ergriff seinen Säbel und ritzte ein X in die dicke schwarze Haut auf dem Oberschenkel. Die Hülle spaltete sich millimeterweit, doch der Mann zeigte keine Reaktion. Jean-Pierre schnitt ein zweites X in die Haut, diesmal tiefer: Tropfen von rotem Blut quollen aus dem Riss hervor. Der Mann zuckte. Und schlug die Augen auf.
Das Erste, was Robert sah, waren zwei sehnige braun gebrannte Frauenfüße. Rechts steckte am zweitkleinsten Zeh ein Goldring; der rote Stein darin funkelte. Robert setzte sich auf, hustete erneut und spürte, wie gereizt Rachen und Luftröhre waren. Er schmeckte Salzwasser. Dann hob er langsam seinen Blick.
Vor ihm stand das schönste Mädchen, das ihm je begegnet war: schlank, aber wohlgeformt, mit langen blauschwarzen Haaren und einem offenen, neugierigen Blick. Was für Augen! Blau, himmelblau, südseeblau, so hell und doch unergründlich … Er wollte sie erforschen, ganz tief hineinsinken, und wenn er darin untergehen müsste! Der Kontrast zu den schwarzen Wimpern faszinierte ihn. Er spürte ein Rieseln bis in die empfindlichsten Stellen seines Körpers.
Olivia erkannte in den grünbraunen Augen des Fremden goldene Sprenkel. Hatte man je so etwas gesehen? Goldene Lichter in der Iris! Sie wollte wieder weggucken, aber es ging nicht. Wie gebannt starrte sie auf diese Funken und neigte den Kopf. Sie tanzten, sogen ihren Blick fest und fragten sie etwas, geradezu unverschämt direkt …
„Joi!“, seufzte Rosa ahnungsvoll. Sie hatte einen Blick für Blicke.
„Hey, kannst du auch laufen“, spottete einer der Piraten, „oder nur schwimmen?“ Er half dem Geretteten auf und stieß ihn an. „Na los, lauf schon!“
Vorsichtig patschte Robert ein paar Schritte mit den Schwimmflossen. Er ahnte, dass es bescheuert aussah. Er fühlte jetzt den Schmerz an seinem Oberschenkel, betrachtete erstaunt die Wunde, legte seine Hand darauf und humpelte weiter über Deck.
Rosas Instinkt hatte nicht getrogen. Dieses männliche Wesen war groß und ausnehmend gut gebaut: breite Schultern, flacher Bauch, schmale Hüften.
In Roberts Kopf drehte sich alles. Was war nur passiert?
Zwei Seeräuber kippten ihm einen Eimer Wasser vor die Flossen. Robert rutschte aus, und alle grölten. Er konnte gerade noch verhindern, dass er mit dem Rücken auf seine Pressluftflaschen fiel.
„Sagt mal, was ist das hier?“, rief er ärgerlich. „Soll das eine Art Äquatortaufe werden, oder wie?“ Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie ungewöhnlich die bärtigen Typen um ihn herum gekleidet und gestylt waren. Turbanartig verknotete Kopftücher, verdreckte Kniebundhosen. Einige Oberkörper waren nackt, sonnenverbrannt und narbenübersät, an einigen klebten zerschlissene blau-weiß karierte Hemden oder geringelte T-Shirts mit Löchern.
Jede Menge Tätowierungen weckten Roberts Interesse. Altmodische Messer und Pistolen hingen an den Gürteln der Männer. Bei mehreren schien schon vor längerer Zeit das Deo versagt zu haben. Einer spuckte durch schwarzbraune Zahnstumpen ein Stück Kautabak über Bord. Und dann diese putzige Lady in Operettenverkleidung! Robert musste lachen. Es ging ihm schon wieder besser.
Er schnallte lässig die Pressluftflaschen ab und entledigte sich aller anderen Gerätschaften. „Jetzt verstehe ich.“ Er schmunzelte. „Ich bin in Dreharbeiten hineingeraten. Was wird es denn: ein Piratenfilm oder ein Werbespot für Fischstäbchen?“
Jean-Pierre fragte ihn misstrauisch: „Mon dieu, wieso sprichst du so ein seltsames Englisch?“
Robert grinste und imitierte dessen französischen Akzent. „Ah Monsieur, Sie ’aben Ihre Muttersprack, isch ’abe mein: Isch bin Deutscher, und vielleischt klingt mein Englisch deshalb in Ihren Ohren etwas fremd!“
Jean-Pierre grinste zurück. Der Mann war ihm sympathisch.
Die meisten an Bord verständigten sich auf Pidgin. Diese vereinfachte Mischmasch-Variante der englischen Sprache konnten auch ungebildete Seefahrer aller Nationen innerhalb weniger Monate erlernen.
Rosa hielt Robert ihre Hand zum Handkuss hin. In einem Atemzug brachte sie ihre gesamten Deutschkenntnisse an den Mann: „Guten Abend, guten Tag, guten Morgen. Zwei Bier, bittäschön. Bestellen Sie mir eine Kutsche. Ziehen Sie Beethoven vor oder Mozart? Ist Wagner nicht zu gäwagt? Was erlauben Sie sich, mein Härr!“
Robert unterdrückte einen Lachanfall und küsste Rosa die Hand. Er wartete auf eine Auflösung wie „Hallo, hier ist die versteckte Kamera!“
Stattdessen wurden die Ungereimtheiten gekrönt durch die Ansage: „Der Käpt’n!“ Ein untersetzter, durchaus einschüchternder Haudegen kletterte an Bord, trotz der Hitze sorgfältig bekleidet mit Goldknopf-Uniformjacke über einem weißen Hemd und mit maßgefertigten Stulpenstiefeln. Während er im Seemannsgang heranstapfte, nahm er seinen breitkrempigen Hut ab und warf ihn dem Schiffsjungen zu.
Robert schätzte ihn auf Ende fünfzig. Graue Strähnen durchzogen die rötlichen Haare, in den Vollbart mischte sich außerdem noch Schwarz. Er war dreifarbig wie eine Glückskatze. Alle Achtung, dachte Robert, tolles Casting! Die hatten die Rollen für diesen Film wirklich hervorragend besetzt. Fünf Männer begleiteten den Hauptdarsteller, auch sie echte Charakterköpfe.
„Was habt ihr denn da fürn komischen Vogel an Deck gezogen?“, dröhnte der Käpt’n und verbesserte sich sofort. „Fürn komischen Frosch. Kennst du die Spezies, Doc?“
Seine Eskorte lachte. Zwei kräftige Männer, die als Träger mit an Land gewesen waren, übergaben eine reife Bananenstaude und erlegtes Wild an Hop Sing; der strahlte und freute sich über das willkommene Obst und das Frischfleisch. Die anderen drei Männer gehörten – neben Jean-Pierre, dem Ersten Offizier, und Jan, dem holländischen Steuermann – zum engen Beraterkreis des Kapitäns: Stanley, der beste Schütze und Jäger der Crew, stammte aus der feinsten Bostoner Gesellschaft. Seine Familie hatte ein Vermögen mit dem Bau US-amerikanischer Kriegsfregatten gemacht. Sie wurde daraufhin sehr vornehm, was Stanley sehr gelangweilt hatte. Der schmale Mann wirkte in dieser Umgebung kühl und distanziert und ein wenig unheimlich. – Kekolo war der Navigator, ein Hawaiianer im Wickelrock aus Bast mit schwarzem Haarknoten, mächtigen Pranken, dick wie ein Sumoringer und die Ruhe selbst. Obwohl er es auf höchstens fünfundzwanzig Jahre brachte, sprach man auf dem Schiff bereits ehrfürchtig von „Kekolos Gespür fürs Meer“.
Der wichtigste Berater des Käpt’ns jedoch hieß Dr. Reno de Vries. Ein großer Mann Anfang fünfzig mit Geheimratsecken, dessen blondgraue Haare bereits schütter wurden. Rote Äderchen durchzogen die Haut über den festen Wangen, die trockenen Hände wirkten stets wie mit Talkumpuder eingerieben, und die graublauen Augen blickten klug und gütig. In seiner Heimat Ostfriesland hatte er früher aus Mitleid illegale Abtreibungen an armen Torfgräberfrauen vorgenommen. Danach war er dem Goldrausch in Kalifornien erlegen, und schließlich hatte es ihn in die Südsee zu den Piraten getrieben. Mit dem Käpt’n verband ihn eine entscheidende Tatsache: Beide hatten deutsche Wurzeln. Der Kapitän selbst war zwar niemals in Deutschland gewesen, doch er glich äußerlich mehr seinem Großvater aus Westerstede als seiner Familie auf Hawaii.
Der Doc nahm nun prüfend die schwarze Haut am Arm des Froschmanns zwischen zwei Finger. Robert lüpfte fragend die Augenbrauen, ließ ihn aber gewähren. Der Doc hatte bereits rote Ohren vor Aufregung, weil er beim Landgang unglaubliche Entdeckungen gemacht hatte: Er war auf einen Ur-Urwald gestoßen, den Dinosaurier unter allen Urwäldern! Mit Pflanzen und noch nie gesehenen Tieren, kühner in Farben und Formen als in der ausschweifendsten Fantasie … Reno de Vries war Wissenschaftler durch und durch: Arzt, Botaniker, Zoologe, Geograf. Er würde viel nachzuschlagen und noch mehr aufzuzeichnen haben – für nachfolgende Generationen. Und jetzt noch dieses seltsame menschliche Exemplar!
Neugierig beäugten Robert und die Männer einander. Sie schwiegen. Einauge spielte mit seinem Messer. Harry-reg-dich-ab kratzte mit der Hakenspitze seiner Armprothese Dreck unter den Nägeln seiner gesunden Hand weg. Der Wind ließ die Leinen an die Masten klickern.
Schließlich wurde die Spannung unerträglich. „Vielleicht sollte ich mich einfach vorstellen“, sprach der Fremde mit angenehm tiefer Stimme. „Dr. Robert Bruns, Meeresbiologe von der Uni Hamburg. Ich bin seit einer Woche hier, um an einem Forschungsprojekt am Great Barrier Reef mitzuarbeiten. Wir wollen mehr über die Ursachen der Korallenbleiche herausfinden.“
In den ersten Jahren des dritten Jahrtausends hatte das Große Barriere-Riff vor dem australischen Bundesstaat Queensland eine schlimme Korallenbleiche erlebt: In Küstennähe wurden bis zu neunzig Prozent der hochempfindlichen Unterwasserwunder zerstört. Sie starben ab, verloren ihre bunten Farben, verblassten zu toten Kalkstümpfen. Deshalb sprach man von einer „Bleiche“. Selbst im äußersten Norden bei Townsville starben die Korallen. Es hatte Robert fast die Tränen in die Augen getrieben, als er erst kürzlich bei seinen Tauchgängen das wahre Ausmaß erkannte.
Keiner an Bord verstand, was er sagte. Und bevor jemand nachfragen konnte, veränderte ein unkontrolliertes Geräusch des Käpt’ns die Situation. Es klang, als müsste er nach Luft schnappen. Er starrte auf Roberts Brust, sein Gesicht lief knallrot an. Er zeigte auf die Kette. Seine befehlsgewohnte Stimme zitterte. „Woher – habt Ihr – dieses – Amulett?“
Robert fühlte sich plötzlich erschöpft und verkatert. „Dürfte ich erst mal duschen, bevor wir uns weiter unterhalten?“, fragte er höflich. „Und würde mir vielleicht jemand eine Jeans und sein Handy leihen?“
Die Mannschaft schaute ihn an, als käme er von einem anderen Stern.
„Okay, ich ziehe die Frage zurück“, witzelte Robert.
Schade, dachte Rosa, er ist verrückt. Olivia beobachtete besorgt ihren Vater.
„Das Amulett!“, beharrte der Käpt’n aufgebracht.
Robert überlegte, ob er nicht einfach mit einem Sprung ins Wasser den Abgang machen sollte, der Typ fing an, ihn zu nerven. Er blickte zur Küste hinüber – aber sie sah völlig verändert aus: kein einziges Hotel, kein Haus, geschweige denn eine Ortschaft war zu erkennen! Und auf dem Wasser dümpelte nicht eine Yacht, weit und breit glitt kein Segelboot über die Wellen …
Robert griff zum Anhänger seiner Kette. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Bei seinem Tauchgang heute früh … Obwohl das Wasser fünfundzwanzig Grad warm war, hatte er den langen Neoprenanzug gewählt, um den „Box Jelly Fishes“ keinerlei Angriffsfläche zu bieten. Die tödlichen Wespenquallen trieben seit Tagen massenhaft vor der Küste. Deshalb gingen zurzeit auch keine Touristen ins Meer baden. Aber seine Haut war ja gut geschützt, also tauchte er trotzdem. Und dann hatte er zwischen einem Schwarm von Anemonenfischen, diesen possierlichen orangefarben geringelten Clownfischen und einer Zebramuräne am Riff etwas glitzern gesehen.
Sein Herz schlug schneller. Ja, natürlich, er hatte eine Schatzkiste entdeckt! Die Kiste war halb versandet, halb von Korallen überwuchert und noch verschlossen gewesen. Aber an einer Ecke blinkte durch ein Loch hindurch die goldene Kette, die er jetzt trug. Er hatte sie nur mit Mühe herausbekommen und wollte gerade zurück an Bord, um Werkzeug zu holen – da erfasste ihn ein gewaltiger Strudel, wirbelte ihn herum, riss ihn mit, bis er das Bewusstsein verlor … und hier an Bord wieder zu sich kam.
„Die Kette habe ich heute Morgen bei einem Tauchgang an einer Steilwand im Riff gefunden“, sagte Robert langsam wie zu sich selbst.
Der Kapitän trat einen Schritt näher. Er schob den Lauf seiner Pistole unter das Amulett, um dessen Details zu studieren. Allerdings verdeckten Ablagerungen von Algen und Muscheln die Feinheiten.
Robert überragte den Käpt’n um anderthalb Kopflängen. Er blickte irritiert auf das seichte Gewässer in Richtung Strand, ein ideales Schnorchelrevier. In allen Farben leuchteten die Korallen im Wasser, so bunt, hier pastellig, dort kräftig … Da dämmerte es ihm: bunt! Keine Spur mehr von Korallenbleiche! Und, nein, tatsächlich: auch keine Wespenquallen! Wie konnte denn beides so schnell verschwinden?
Probehalber murmelte er: „Beam me up, Scottie!“ Nichts veränderte sich. Robert wandte sich an das wunderschöne Mädchen mit den blauen Augen. „Welches Datum haben wir heute?“
Olivia räusperte sich. Sie musste aufpassen, dass seine Augen nicht wieder diesen magischen Zauber mit ihr trieben. Noch nie hatte ein Mensch sie so verwirrt wie dieser Mann. Da sie aber jede Eintragung im Logbuch las, wusste sie sicher: „Heute ist der 15. April 1852.“
2. KAPITEL
„Keiner rührt das Amulett mit der bloßen Hand an!“, befahl der Käpt’n. „Niemals! Sonst holt uns alle der Teufel!“ Finster blickte er in die Runde.
Seine Leute wussten: Wenn der Alte in diesem Ton sprach, war es bitterernst. „Aye, aye, Sir!“
Dann schickte er den Schiffsjungen Benny los, er sollte eine Schatulle und Handschuhe aus der Kapitänskajüte holen.
„Hat die Kette deine Haut berührt, Froschmensch?“
Robert hob demonstrativ seine neuen Superstretch-Handschuhe. Die hatte er extra wegen der Wespenquallen gekauft, um wirklich am ganzen Körper vor ihrem Gift geschützt zu sein. „Superweich, mit Dichtmanschette und Antislip-Profil“, klang ihm noch die Stimme des Verkäufers im Ohr.
„Dank deinem Gott“, brummte der Käpt’n. Er nahm Benny ein Paar altgedienter Lederhandschuhe ab und zog sie sorgfältig an.
Robert fühlte Ärger in sich aufsteigen, aber er spürte auch, dass es besser war, sich in diesem Moment in Zurückhaltung zu üben. Der Käpt’n schien grundsätzlich kein übler Kerl zu sein, kein dumpfbackiger Brutalo. Und er wusste ganz offensichtlich mehr über dieses Amulett als er.
Ein völlig abwegiger Gedanke schoss Robert durch den Kopf: Hatte man nicht immer mal wieder von einem Zeitstrom gehört? Könnte es sein, dass er durch ein bislang wissenschaftlich noch nicht geklärtes Phänomen von einem Zeitalter in eine andere historische Epoche befördert worden war?
„Schwamm!“, forderte der Käpt’n. Ein Pirat reichte ihm einen Naturschwamm, der zum Deckschrubben benutzt wurde. Soweit es ging, wischte der Kapitän damit das Goldamulett sauber. Dessen Durchmesser entsprach in etwa dem jener mit einer Pfingstrose bemalten Tasse, aus der Doc de Vries seinen Ostfriesentee zu trinken pflegte.
„Ein großartiges Amulett!“ Scharfschütze Stanley, der auch als Edelsteinexperte galt und auf dem Schiff eine Art Schatzmeister war, pfiff anerkennend.
Aus respektvollem Abstand stierten alle auf das Schmuckstück. Die Männer vorn mussten jenen hinten erzählen, was sie sahen. Einige Piraten kletterten kurzerhand in die Brassen, um wenigstens einen besseren Blick auf den Gefangenen werfen zu können, auch wenn ihnen die Details auf dem geheimnisvollen runden Ding verborgen blieben.
Der Kapitän studierte jede Einzelheit. Auch Robert musterte nun aufmerksam seinen Fund. Ein Relief prägte die goldene Kostbarkeit. Mehrere Kreise umrahmten das Porträt eines Mannes. Vielleicht stellte es einen König dar oder einen Gott. Er bleckte die Zähne und starrte seine Betrachter aus dunklen Augen an. Durch die Nase war quer ein zigarillogroßer Pflock gezogen. Die Haare an beiden Seiten waren stilisiert, mit ein paar Längseinkerbungen, wie frisch gescheitelt und gekämmt. Direkt unterm Kinn sah man rechts und links je fünf Fingerspitzen oder richtiger: Klauen – mit Augen darin statt Fingernägeln! Das Furchterregendste aber war die Zunge: Sie hing lang und spitz aus dem Mund, bis über das Kinn hinunter. Sie sah fast aus wie ein Messer, und darauf erkannte man ein Muster sowie einen schwarzen Stein. Einige Piraten bekreuzigten sich.
Neugierig kam Olivia näher, die Hände locker in die Hüften gestützt. „Schön schauerlich!“, rief sie amüsiert. Etwas ganz anderes versetzte sie insgeheim in Unruhe: Das Goldstück hing an einer breiten, offenbar muskulösen Brust. Und der Mann hielt sich aufrecht, er war nicht von harter Arbeit oder widrigen Lebensumständen deformiert. Nicht krumm und schief, nicht durch frühere Armut oder Kampfverletzungen beeinträchtigt oder von Tropenkrankheiten ausgemergelt. Es verursachte ihr ein warmes Kribbeln, nahe bei ihm zu stehen. Instinktiv straffte sie ihre Schultern. Allerdings hütete sie sich, erneut in seine Augen zu schauen.
Sie ertappte sich dabei, dass sie wünschte, er möge eine „intelligente“ Brust haben. Die Piratentochter hatte schon viele nackte männliche Oberkörper gesehen und hatte – aufgrund ihrer Erfahrung und aus Zeitvertreib – eine eigene Typenlehre für Männerbrüste entwickelt. Sie konnte sie regelrecht „lesen“. Es gab dumme, feige, starke, nichts sagende, feinfühlige, vornehme, rachitische, kluge, gedrillte, gehorsame, wilde und tapfere Oberkörper. Wodurch genau der jeweilige Eindruck bei ihr entstand, hätte Olivia nicht zu erklären vermocht. Sie empfand aber auf diese Weise ganz deutlich den wesentlichen Charakterzug eines Mannes.
Manchmal spielte sie das Spiel auch gemeinsam mit Rosa. Beim Be- und Entladen in den Häfen zum Beispiel blickten sie absichtlich nicht in die Gesichter der Kerle, sondern nur auf deren Brustkörbe. Und dann fällten sie ihr Urteil und kicherten wie junge Mädchen. Meistens waren sie sich in ihrer Einschätzung einig. Entscheidend für die Wirkung war, wie die Brustwarzen „guckten“. Manche schielten, von Natur aus oder weil dem Mann einst die Rippen gebrochen worden und schief wieder zusammengewachsen waren. Außerdem spielte es eine große Rolle, wie sich die Proportionen der Brustmuskeln zu den anderen Muskeln verhielten. Mancher Kerl war vielleicht stark, aber dabei dumm. Oder intelligent, doch auch feige. Olivia träumte von einem, der gleichzeitig klug und stark aussah. Solche Exemplare waren selten. Zu gern würde sie jetzt diese Männerbrust begutachten …
„Haltet euch fern davon“, donnerte der Käpt’n noch einmal. „Das gilt für alle!“ Er meinte das Amulett. Dennoch fühlte sich Olivia ertappt und trat einen Schritt zurück.
Behutsam hob der Anführer der Piraten nun mit beiden behandschuhten Händen die Kette samt Amulett über Roberts Kopf und ließ sie in die Schatulle fallen. Mit einem satten „Plong“ schloss der Schnappmechanismus.
„Jetzt zu dir!“, wandte sich der Pirat wieder Robert zu.
Robert lächelte versuchsweise diplomatisch, drehte dabei seinen Nacken, als könnte er so etwas Unangenehmes abschütteln. „Ähm, tja. Es klingt etwas unwahrscheinlich, finde ich ja auch …“ Er räusperte sich. „Aber mir scheint, ich habe soeben eine Zeitreise rund hundertfünfzig Jahre zurück gemacht. Ich komme sozusagen aus Ihrer Zukunft.“
Einauge grölte laut los, als hätte jemand einen besonders guten schmutzigen Witz erzählt. Als er merkte, dass die anderen nicht einstimmten, brach er jedoch rasch ab. Der Käpt’n und die Crew musterten den Fremden. Einerseits ungläubig, andererseits geneigt, das Unwahrscheinliche für möglich zu halten.
Die Aussage des Fremden würde einiges erklären. Und begegneten ihnen denn nicht jeden Tag neue Wunder? Heute Morgen erst hatten der Käpt’n und der Doc ein mannsgroßes Tier gesehen, mit kleinen Vorderpfoten und kräftigen Hinterläufen, irgendetwas zwischen Hase und Reh. Allerdings bewegte es sich aufrecht fort. Aus dem Fell vor seinem Bauch lugte keck ein Junges hervor. Und es hüpfte mit meterweiten Sprüngen davon! – Oder diese Bäume im Urwald: Farne, die ehrbare Bürger in Blumentöpfen in ihre Salons stellten, wucherten hier haushoch! Als sie unter den Lichtreflexen, die durch das rundherum aufgefächerte Blätterdach fielen, nach oben geblickt hatten, überwältigte sie das Gefühl, zu Zwergengröße geschrumpft zu sein. Vielleicht waren sie ja tatsächlich zusammengeschrumpft und hinterher wieder gewachsen. Niemand hätte beschwören können, dass dem nicht so gewesen sei …
Eins allerdings wusste nur der Kapitän: Die Existenz dieses Amuletts bezeugte, dass eine alte wundersame Legende der Wahrheit entsprach. Bis heute hatte er sie nicht ganz geglaubt. Es war die Geschichte seines Großvaters Adalbert Schmidt aus dem fernen Westerstede.
„Kannst du beweisen, was du behauptest?“, fragte der Käpt’n Robert trotzdem, denn man konnte nicht misstrauisch genug sein in diesen Zeiten, da an jeder Meeresenge Ganoven lauerten.
Robert überlegte fieberhaft. Wie sollte er beweisen, dass er in einer Epoche hundertfünfzig Jahre später zu Hause war? Sollte er von der Entwicklung der Börsenkurse berichten oder von den Weltkriegen, die noch kommen würden? Von Erfindungen wie Auto oder Fernseher? Nein, das hätte aus Sicht der Piraten alles reine Fantasie sein können. Er müsste etwas vorlegen.
Aber einem nackten Mann kann man nun mal nichts aus der Tasche ziehen, dachte er. Ha! Fast nackt. Er hatte schließlich immer seine Kreditkarte dabei! Robert griff sich an den Reißverschluss, der unter einem Klettverschluss am Hals begann, und zog ihn ein Stück herunter. Er öffnete den Neoprenanzug und holte etwas aus einer wasserdichten Brusttasche mit doppeltem, versetzt genähtem Zippverschluss: die Goldcard mit Mastercard von der HASPA (Hamburger Sparkasse). Triumphierend schnippte er mit den Fingern gegen das Stück Plastik und reichte es dann weiter.
Die Goldfärbung der Karte faszinierte den Käpt’n sichtlich. Er entdeckte, dass das holografische Weltkugelsymbol dreidimensional wirkte, sobald er die Karte bewegte und damit den Lichteinfall änderte.
„Hmmm … Doc?“
Robert bemerkte in freundlichem Ton: „Auf der Rückseite ist mein Foto, sehen Sie?“
Das Schiff knarrte leise. Der Doc mischte sich ein, er platzte fast vor Neugier. „Ist das eine Daguerreotypie? Ich habe gelesen, dass in Paris mit lichtempfindlichen Silbersalzen und Kupferplatten experimentiert wird!“
Robert wünschte, er hätte mehr Ahnung von Technikgeschichte und Chemie. „Tja, äh … nicht direkt“, begann er, „wir sind da schon weiter …“
Der Doc kam näher. „Wie ist das Fixierproblem gelöst worden?“
Robert kratzte sich hinter den Ohren. „Das Fixierproblem … jaa …“
Gemurmel hob an, Unruhe erfasste die Mannschaft. Einer stieß aus Versehen gegen eine Sturmlampe. Da fiel Robert seine Tauchertaschenlampe ein: mit Bleiakkus betrieben, Power auf Knopfdruck, strahlte bis zu sechzig Meter unter Wasser.
Robert zeigte auf den Haufen mit seinen Gerätschaften am Hauptmast. Er wollte keinen falschen Schritt riskieren. „Damit kann ich es wirklich einleuchtend beweisen“, sagte er, „wenn Sie mich lassen. Am besten allerdings funktioniert es bei Dunkelheit.“
Er durfte hinübergehen. Bei dieser Gelegenheit befreite er sich von den lästigen Schwimmflossen. Er musste kurz grinsen: Gestern Abend, beim Sundowner auf dem Forschungsschiff, hatte ihm seine australische Assistentin die Fußnägel mit blaumetallicfarbenem Nagellack bemalt. Das war angeblich zurzeit der letzte Schrei unter den hippen Surfern in Neuseeland. Er hatte sie gewähren lassen. Sie war eine verspielte Studentin, lustig und unkompliziert, aber mit großem Fleiß bei der Arbeit. Warum sollte er nicht mal einen Spaß mitmachen?
„Joi!“, entfuhr es Rosa schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Auch Olivia staunte. Solche gepflegten Männerfüße hatte sie noch nie gesehen: absolut sauber, rundum gesund, mit gerade gefeilten Nägeln – und dann noch diese interessante Stammesbemalung! Sie versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.
Robert griff nach der Taucherlampe. Der Käpt’n nahm sie ihm aus der Hand. Er prüfte, ob sie vielleicht eine getarnte Waffe sei, fand aber keinerlei Anhaltspunkte dafür. Dann gab er sie zurück. Nun blinkte Robert ein paarmal zur Crew hinüber.
„Ohh!“
„Ahh!“
Er kletterte an der Schattenseite des Schiffs am Fallreep hinunter und hielt die Lampe unter Wasser. Jeder konnte sehen, dass sie einen hellen Lichtkegel auf den Meeresgrund warf. Danach musste er unter Deck in die dunklen Lagerräume leuchten. An. Aus. An. Aus. In blitzschnellem Wechsel. Eine Ratte fühlte sich gestört und huschte in eine andere Ecke.
Der Doc konnte seine Neugier nicht länger bezähmen. „Darf ich mal?“, fragte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er vorsichtig am Reißverschluss von Roberts Tauchanzug. Rauf und runter. „Tolle Erfindung!“, sagte er. „Wie heißt so was?“
Robert schöpfte Hoffnung. „Reißverschluss.“
„Ahh … Reiß-ver-schluss.“ Dann machte er den Klettverschluss an Roberts Hals auf und zu. „Und was ist das?“
„Ein Klettverschluss.“
Der Doktor ging langsam um Robert herum wie bei einer Visitation. Der hatte sich zuletzt bei der Musterung zur Bundeswehr so gefühlt. Nein, diesmal wars schlimmer: Mehrere Dutzend blutrünstige, vulgäre Piraten umringten ihn. Robert schwankte zwischen zwei Impulsen: losprusten oder die Flucht ergreifen.
Er schloss die Augen, kniff sie fest zusammen. Das konnte unmöglich Wirklichkeit sein. Irgendwer musste ihm heute Morgen was in den Tee getan haben. Doch der Geruch von Männerschweiß, Teer und feuchtem Holz blieb. Die Hintergrundgeräusche schwollen an wie der Dolby-Sound zu einem Abenteuerfilm: Der altmodische Segelschoner ächzte zwischen Wellenschlag und Seevogelgeschrei, heisere Männerstimmen warfen sich kurze Sätze zu. Hier rotzte, drüben spuckte einer. Der Boden unter seinen Füssen schaukelte.
Als Robert die Augen öffnete, stand der Mann, den sie Doc nannten, wieder vor ihm. Er befühlte noch mal den Anzug, fuhr mit einem Finger darunter, spürte Roberts Haut. Der zuckte unter der unerwarteten Berührung leicht zusammen.
„Ist das Gummi?“, wollte der Doc wissen. „Ich habe gelesen, dass in Nordamerika ein Mister Goodyear seit Jahren mit vulkanisiertem Kautschuk experimentiert.“
„Das ist Neopren“, antwortete Robert. „Wir sind da schon weiter. Das ist Kunstkautschuk. Leichter und angenehmer zu tragen.“
Immer mehr Piraten wagten sich näher heran, betasteten die Neoprenhülle.
„Das ist nur ein Anzug!“, rief Robert schließlich, zog den Reißverschluss bis zum Bauchnabel auf und schälte sich bis zur Hüfte aus seiner Tauchermontur. Erstaunt über die rasche Wandlung wichen die Männer zurück. Doch dann entspannten sie sich sichtlich. Der Fremde schien tatsächlich ein ganz normaler Mann zu sein. Sogar ein besonders gut aussehender Mann.
Die Piratentochter pfiff erfreut. „Hui! Hol mich der Henker!“ Diese Brust war stark und klug! Kein Zweifel. Rosa zwinkerte ihr zu.
„Das reicht. Sperrt ihn ins Galion!“, befahl der Käpt’n. „Bubu, du bringst ihn hin und bewachst ihn. Jean-Pierre, gib ihm was Vernünftiges zum Anziehen.“ Jean-Pierres Statur ähnelte der von Robert am ehesten.
„Meine Herren“ – alle wussten, dass er damit seinen engeren Beraterstab meinte, denn ansonsten hätte er nur „Männer“ gesagt – „wir treffen uns zu einer Besprechung.“
Auf die fragenden Blicke von Olivia und Rosa seufzte er leicht. „Ja, ihr dürft auch dabei sein.“ Mit wenig Hoffnung ergänzte er: „Und zuhören!“
Olivia hängte sich an Jean-Pierre. „Ich kann ihm die Sachen bringen!“, bot sie an.
Kurz darauf suchte er in seiner Seekiste nach einer Kattun-Kniebundhose und einem weißen Hemd. Jean-Pierre trug immer weiße Hemden, auch wenn alle anderen Männer lieber mit nacktem Oberkörper schufteten. „Da fehlen ein paar boutons, Knöpfe“, sagte er. „Aber es ist sauber und ohne Rattenbisse.“
Bubu knuffte Robert unterdessen mit seiner Pistole in den Rücken. „Vorwärts!“, befahl seine unnatürlich hohe Stimme, „zum Galion!“ Bubu galt mit Fug und Recht als ein typischer Sohn Polynesiens. Das Erbgut vieler Völker hatte sich in ihm vermischt: Ein dominanter Anteil der Maoris aus Neuseeland, ein bisschen Tahiti, ein Schuss Hawaii und vermutlich auch ein paar Vorfahren aus Malaysia und Europa ergaben einen großen, kräftigen Kerl. Allerdings mit Neigung zu Fettleibigkeit und weibischem Brustansatz. Blauschwarze Tätowierungen bedeckten wie frühzeitliche Comicstrips Arme, Beine und Rumpf. „Na, wird’s bald!“, drängte Bubu finster.
Robert lächelte ihm freundlich über die Schulter hinweg zu. Die einschüchternden Bildergeschichten auf der Haut verrieten zwar, dass Bubu Schmerzen aushalten konnte, doch er jagte Robert kein bisschen Angst ein. Im Gegenteil: Er fand seinen Bewacher irgendwie niedlich und beschloss, Bubu bei passender Gelegenheit nach der Bedeutung seiner Tattoos zu fragen. Fürs Erste allerdings musste er dem Teddybären mit der Mädchenstimme helfen, sein Gesicht zu wahren. Robert tat, als fürchte er ihn, ohne seine Angst zeigen zu wollen. Deshalb hörte er einfach auf zu lächeln.
Und nun lächelte Bubu.
Robert vermutete, dass ein Galion dort lag, wo sich die Galionsfigur befand, demnach irgendwo vorn im Schiff. Er bewegte sich also in Richtung Bug. Und tatsächlich endete ihr Weg am Vordersteven. Von dem erkerartigen Vorbau mit Holzgitterboden und Geländer, der offenbar den Bugspriet stützte, war ein besenkammerkleiner Teil abgetrennt worden. Dort hinein musste Robert klettern. Bubu stellte sich in Wärterposition vor die Tür.
Robert konnte endlich den ganzen Taucheranzug ausziehen. Das Zeug klebte auf der Haut, und das wurde nach einer gewissen Zeit wirklich unangenehm. Eine warme Brise wehte vom Land herüber, drang durch die Ritzen der Holzwand und trocknete seinen Körper. Er dachte an die junge Frau mit den verblüffend blauen Augen. Als sie vor ihm gestanden und ihre Schultern gestrafft hatte, waren ihm ihre wippenden Brustwarzen unter der Rüschenbluse aufgefallen. Er stellte sich vor, dass sie einen „frechen“ Busen hätte: fest, mittelgroß, eine Hand voll, mit Schwung und Wölbung, genau nach seinem Geschmack. Wenn man eine Knospe zart antippte, würde sicherlich die ganze Brust nachwippen. Und schon reagierte sein Körper auf dieses äußerst angenehme Fantasiebild. Bestimmt fühlte sich ihre gebräunte Haut überall am Körper so samtig zart an wie bei ihm nur an auserlesenen Stellen …
Olivia beeilte sich unterdessen, die Kleidungsstücke zum Galion zu bringen. Bubu lächelte ihr zu. Er war wie ihr Aufpasser und großer Bruder zugleich. Er öffnete die Tür des Verschlags, um die Sachen hineinzureichen. Just in dem Moment wandte sich Robert ihnen in voller Pracht zu. Olivia starrte wie gebannt auf seinen Körper.
„Ups“, entfuhr es ihr. Sie steckte den linken Zeigefinger in den Mund – und dachte gar nicht daran, den Blick abzuwenden.
Robert spürte zwei Hitzeflashs: einen unten, der den Skandal nur noch vergrößerte, und einen an den Schläfen. Bevor Bubu reagieren konnte, griff Robert nach den Klamotten, sagte „danke“ und schloss seine Gefängnistür von innen.
Robert sandte seinem Fitnesstrainer im Geiste ein Dankeschön. Zweimal pro Woche ging er in den Vital-Club und plagte sich an den Geräten ab. Zum einen, um fit für anspruchsvolle Tauchgänge zu bleiben, zum anderen, weil es ihm absurd vorgekommen wäre, einerseits für die Erhaltung einer gesunden Umwelt zu kämpfen und andererseits den eigenen Körper zu vernachlässigen. So zog er schon seit zwei Jahren recht diszipliniert das Bodybuilding-Programm durch, das sein Trainer für ihn halbjährlich aktualisierte. Bei der letzten Umstellung hatte er erklärt: „Jetzt wollen wir mal daran arbeiten, deine Längsmuskulatur schärfer zu definieren.“ Hatte wohl ganz gut geklappt.
„Uff!“ Bubu war fertig mit den Nerven. Er ließ sich vor der Tür zu Boden plumpsen und kämpfte gegen die Tränen. Lautloses Schluchzen erschütterte seinen massigen Körper.
Olivia sank neben ihm auf die Planken. Sie stupste Bubu in die Seite, streichelte seinen Arm. „Ach, Mausescheiße! Nimms nicht so schwer“, versuchte sie ihn zu trösten. Sie wusste, dass Bubu vor Jahren beim Entern eines Gewürzfrachters entmannt worden war. Er war damals nicht älter gewesen als Benny, der Schiffsjunge, heute.
„Es hat doch auch alles seine Vorteile“, hörte Robert sie in seinem Verhau durch die Holzwand raunen. „Sieh mal, du bist der Einzige, der Rosa und mich zum Baden begleiten darf. Du kannst wun-der-schön singen … All die Lieder und Arien, die Rosa früher vorgetragen hat. Niemand an Bord außer dir hat diese Gabe. Sei nicht traurig. Die Götter haben es so gewollt, Bubu.“
Der Eunuch schluchzte noch einmal, dann hatte er sich wieder im Griff. Er lächelte Olivia dankbar an. „Schon gut, Leilani“, flötete er.
Sie standen beide wieder auf.
Olivia sah ihn prüfend an. „Kann ich dich allein lassen?“ Bubu grinste Furcht erregend. Nach Maori-Art ging er in Angriffshaltung, mit angewinkelten Knien stampfte er auf und streckte ihr die Zunge raus. „Buh! Buh!“ Dieser traditionellen Art, Feinde zu erschrecken, verdankte er seinen Namen.
Olivia erschrak ihm zuliebe ein wenig und sauste davon. Sie wollte möglichst wenig von der Besprechung in der Kapitänskajüte versäumen.
Robert hockte nun in seinem Verschlag und dachte nach. Die Hose saß ein bisschen knapp. Das Hemd musste fast bis zum Bauchnabel geöffnet bleiben, sonst wären die Nähte geplatzt. Peinlich, dachte er, die halten mich hier glatt für ’nen Düsseldorfer, fehlt nur noch das Goldkettchen … Aber wenigstens war es hier warm, sodass er in seinem Aufzug nicht frieren musste. Er fand es allerdings auch gewöhnungsbedürftig, ohne seine Doppelripp, also quasi völlig haltlos zu sein. Nun ja, sagte er sich, ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen und Verhaltensweisen.
Er war Wissenschaftler. Seine Stärke bestand darin, logisch und systematisch zu arbeiten. Er musste den Kapitän davon überzeugen, dass er nützlich für ihn sein könnte. Eine Taschenlampe reichte vermutlich als Daseinsberechtigung unter Piraten des 19. Jahrhunderts nicht aus. Zumal sich Besitzverhältnisse hier offenbar mit einem einzigen Säbelstreich verändern ließen.
Robert glaubte das alles noch nicht. Er musste sich zusammennehmen, um den nötigen Ernst aufzubringen, sonst würde er sich womöglich durch leichtsinniges Verhalten in Gefahr bringen. Er durfte sich nicht anmerken lassen, wie ulkig er diese Situation fand, denn dann bekäme er bestimmt was auf die Nuss von einem dieser verwegenen Typen. Oder Schlimmeres … Vielleicht würden sie ihn hier an Land zurücklassen. Bloß das nicht! Das Gebiet um Cape Tribulation war ja selbst zu Beginn des dritten Jahrtausends noch eine gottverlassene Gegend. Bei aller Entdeckerfreude – die nächste Großstadt würde er doch vorziehen. Existierte Brisbane bereits? Oder war Sydney, das mehr als 2.500 Kilometer entfernt lag, anno 1852 die nächste Stätte der Zivilisation?
Vielleicht wollten sie ihn ja auch auf einer winzigen Insel aussetzen. Oder auf hoher See in einem Ruderboot mit Proviant für sieben Tage. Oder sie ließen ihn bei Flaute monatelang als Galeerensklave paddeln. Und war es nicht alte Seeräubersitte, Feinde einen Kopf kürzer zu machen, um deren Häupter an Deck aufgespießt zur Abschreckung in der Sonne mumifizieren zu lassen? Das wollte er sich jetzt nicht weiter ausmalen.
Der Doc schien ein gebildeter, kultivierter Mensch zu sein. Und ein sehr wissbegieriger. Ihn würde er vermutlich am leichtesten davon überzeugen können, ihn nicht nur am Leben zu lassen, sondern auch wie einen Gast zu behandeln.
Und der Kapitän? Na ja, so viel wusste Robert noch aus den Seeräuberfilmen und – büchern seiner Kindheit: Piraten suchten immer Schätze. – Aber er, Robert, hatte doch gerade einen Schatz gefunden! Er lag etwa fünfundzwanzig Meter tief am Riff. Er allein konnte mit seiner Ausrüstung dorthin tauchen. Dieser Gedanke hellte seine Stimmung auf. Genau. Das würde er dem Käpt’n vorschlagen: Er tauchte, holte den Schatz und durfte dafür als First-Class-Passagier bis zur nächsten Metropole mitreisen. Vielleicht ließ sich sogar noch ein Anteil vom Schatz aushandeln.
Und dann? Wohin ging die Reise? Vor allem: Bis wann? Wie würde er zurück in seine Zeit kommen? Aufsteigende Panik drohte ihm das Hirn zu vernebeln.
Robert hielt sich den Schädel. Er musste Ruhe bewahren. Klar denken war seine Stärke.
Er schnupperte. Seine Nase war irritiert. Es roch nicht gut hier. Die Brise von Land schon, aber der andere, größere Teil des Galions, von dem sein Kabuff abgetrennt war, stank nach Pissoir. Robert achtete auf die Geräusche. Seine Vermutung wurde zur Gewissheit: Offenbar befand sich hier vorn die Mannschaftstoilette. Auch das noch!
Er versuchte, seinen Gedankenfaden wieder aufzunehmen, doch ein wimmernder Laut lenkte ihn erneut ab. Er spitzte die Ohren. Es klang, als ob ein Kätzchen jammerte oder ein Kind weinte. Robert klopfte an die Zwischenwand, allerdings leise, damit sein Wächter vor der Tür nichts davon mitbekam. Das Wimmern brach ab. Er klopfte noch mal.
Ein Holzpfropf wurde aus einem Astloch in einem Brett herausgezogen. Robert blickte hindurch – in ein anderes Auge. Beide erschraken, wichen zurück und näherten sich wieder, vorsichtig.
„Bist du ein Geist?“, flüsterte eine Jungenstimme. Auf der anderen Seite saß Benny, der Schiffsjunge.
„Nein“, flüsterte Robert zurück. „Ich bin ein normaler Mensch. Ich komme bloß aus der Zukunft. Woher kommst du denn?“
Und Benny erzählte ihm, dass sein Vater vor zwei Jahren „schanghait“ worden sei. Zuvor war er Schuster gewesen, in einem vornehmen Vorort von London.
„Er machte die besten Stiefel von ganz Hampstead: linke Seite und rechte Seite verschieden.“ Stolz klang aus Bennys heller Knabenstimme. Er mochte vielleicht elf oder zwölf Jahre alt sein, der Stimmbruch stand ihm noch bevor. „Alle Butler rissen sich darum, Vaters Stiefel für ihre Lordschaften eintragen zu dürfen.“ Doch böse Männer hätten ihn in eine Hafenkneipe gelockt, betrunken gemacht – und an Bord eines Sträflingsschiffs geschafft, mit Ziel Tasmanien. „Mom konnte uns Kinder nicht satt kriegen …Ich hab noch sieben jüngere Brüder und Schwestern … Deshalb bin ich weggelaufen … Und eines Tages finde ich meinen Vater!“
Benny litt noch immer unter Anfällen von Heimweh. Dann heulte er eine Runde auf dem Mannschaftsklo, und anschließend gings wieder. Die Männer wussten das, den meisten war es früher ähnlich ergangen. Niemand verlor ein Wort darüber, keiner zog Benny deswegen auf.
Bubu pochte gegen die Tür. „Hey, Benny! Wird Zeit, dass du dich wieder blicken lässt. Die Herren tagen schon.“
Der Kapitän stand wieder auf und ging in seiner Kajüte, der geräumigsten an Bord, auf und ab. Dann blieb er stehen. Geübt spuckte er seinen Priem in einen Napf neben der Tür. „Präzise!“, freute er sich beiläufig.
Jan, der wie die anderen an dem großen runden Tisch aus rötlichem Holz saß, wiederholte: „Kein unnötiges Risiko, das ist meine Meinung.“ Deshalb schlug der holländische Steuermann vor: „Kopf ab, dann sind wir dat Probleem los. Fertig!“
Olivia zuckte zusammen. Sie saß Rosa gegenüber unter der Fenstergalerie der Kajüte. Glücklicherweise verriet ihr ein Blick in das Gesicht ihres Vaters, dass auch er diese Lösung für übertrieben hielt. Sie studierte aufmerksam die Mienen der übrigen Berater.
Jean-Pierre, der Erste Offizier, war ein leidenschaftlicher Franzose, doch auch ein Stratege, der nachdachte, bevor er einen Hieb platzierte. Er mochte den Fremden. Und sein Instinkt für Freund oder Feind funktionierte bestens.
„Isch glaube nischt, dass er uns schadet“, gab er seine Meinung kund. Vielleicht würde er in Robert sogar einen Fechtpartner finden. Er trainierte jeden Tag, meistens mit Olivia. Sie hatte Talent und Geschick, aber eine Frau blieb eine Frau. Ihr lag das Florettfechten. Der Umgang mit Degen und Säbel jedoch erforderte die Kraft und Ausdauer eines starken Mannes. Es bereitete mehr plaisir, mit Ebenbürtigen zu kämpfen.
Jean-Pierres Miene spiegelte bereits Vorfreude und Neugier. Die hohe breite Stirn verriet Offenheit, aber auch Angriffslust. Aus seinen dunkelblauen Augen blitzte Witz. Er hatte einen Backenbart, den er ebenso wie seine eher kurzen, gewellten, kastanienbraunen Haare ins Gesicht gekämmt trug. Einmal in der Woche ließ er sich vom Schiffsjungen rasieren und die Seitenpartien seiner Haare nach biedermeierlicher Mode fedrig schneiden. Eine ausgeprägte, auf der Spitze mit einem kleinen Längsgrübchen gespaltene Nase machte den Eindruck perfekt, dass es sich hier um einen eigensinnigen Charakter handelte. Ein paar Jahre zuvor hatte Olivia insgeheim für ihn geschwärmt.
Jean-Pierre sprach seine Gedanken nicht aus. Es ging schließlich um das Wohl der gesamten Mannschaft. Und wichtige Beschlüsse wurden an Bord dieses Piratenschiffs stets gemeinsam getroffen.
„Im Gegenteil!“, fuhr Jean-Pierre fort. „Eher ist er uns sogar nützlisch. Auch wenn er von der Seefahrt keine Ahnung ’aben sollte: Er ist kräftig und intelligent. Seit der Beriberi-Epidemie fehlen uns mindestens zehn Mann.“
Olivia atmete auf. Sie schickte ihrem Fechtlehrer ein reizendes Lächeln. Rosa drückte ihm die Hand. Auch sie fand den Froschmann lebendig eindeutig interessanter.
Doc de Vries schenkte sich aus einer Metallkanne, die auf einem Stövchen stand, Tee in seine Ostfriesen-Rosen-Tasse ein. Einen Moment lang lauschten alle auf das feine Knistern des Kandis. Der Tee war rostbraun, eine fermentierte Mischung. Nur die Sahne fürs „Wulkje“ fehlte.
„Ah, bäh! Wie kann man nur“, spottete Jean-Pierre mit angewiderter Miene, „bei dieser ’itze ’eißen Tee trinken, und dann noch ohne Rum!“
Der Doc grinste. „Tee spendet Energie, Rum raubt sie!“ Er nahm einen Schluck und sagte bedächtig: „Meine Herren. Dieser Mann aus der Zukunft ist mehr wert als alle Schätze, die wir bislang gefunden oder erobert haben.“ Ihn persönlich interessierte vor allem das Wissen des Fremden. Er brannte darauf zu erfahren, was Forscher in den nächsten Jahrzehnten herausfinden würden. Doch der vielseitige Doktor hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass andere Menschen materiellen Reichtum höher schätzten. Deshalb argumentierte er weiter: „Sein Wissen kann uns reich machen. Er wird uns verraten, wo Bodenschätze liegen: Gold, Kupfer, Opale, seltene rosa Diamanten! Welche Erfindungen die Welt revolutionieren – und was bald gefragt sein wird. Davon träumt jeder Kaufmann! Vielleicht kennt er auch Heilmethoden, die uns unbekannt sind …“
Die graublauen Augen des Norddeutschen leuchteten. Seine buschigen Augenbrauen, aus denen mehrere lange Teufelshaare herausragten, zitterten vor Begeisterung. Er schloss sein Plädoyer mit den Worten: „Es wäre ein Verbrechen gegen die Wissenschaft, gegen die Menschheit und gegen die glorreiche Zukunft der ‚Hinakua‘, dem Mann aus der Zukunft auch nur ein Haar zu krümmen!“
Scharfschütze Stanley schlug elegant die langen Beine übereinander. Selbst im Tropenklima war er gentlemanlike gekleidet, trug eine lange Hose und eine passende graue Weste aus feinstem, leichtem Tuch mit locker geknotetem Seidenschal. Dieser Mann schien nie zu schwitzen. Er spielte mit einem silbernen Revolver, den Mr Samuel Colt persönlich für ihn angefertigt hatte.
„Also“, Stanley sprach leise, und es wurde mucksmäuschenstill, „geben wir ihm eine Chance. Soll er zeigen, dass er nützlich ist.“
Kekolo, der dicke hawaiische Navigator, nickte beifällig. „Joo!â
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